„Heime heilen? Größter Quatsch!“
Diagnose „sozialer Milieuschaden“: Abstempelung wie gehabt
SS-Erzieher. Dass ehemalige SS-ler als Erzieher in dem Kinderheim am Wiener Wilhelminenberg gearbeitet haben, war, bevor mutige Opfer nun endlich an die Öffentlichkeit gingen, nicht bekannt. Genauso unbekannt ist, dass es bis Anfang der 70er Jahre, zumindest in Deutschland, noch „Flüchtlingslager“ aus dem Zweiten Weltkrieg gab, aus denen Kinder mit der Diagnose „sozialer Milieuschaden“ in Heime geschickt wurden. Der ehemalige Chefarzt der Suchtabteilung der Psychiatrie in Hamburg Ochsenzoll, Bert Kellermann, erinnert sich.
Wie kam es, das dir persönlich dein ganzes Leben lang die Psychiatrie als Berufsfeld so wichtig war?
Wir wollten Ende der 60-er Jahre, weil es im Bereich Jugendpsychiatrie so ein Defizit gab, in Hamburg Ochsenzoll eine spezielle Abteilung gründen. Dann bekam ich aber den Auftrag eine Kurzzeit-Therapiestation für Alkoholiker aufzubauen. Wir hatten auf der allgemeinpsychiatrischen Station so ein ganz aggressives Mädchen. Auf der Jugendpsychiatrie als zu schwierig abgelehnt, lebte es alleine als 12-jährige unter all diesen psychisch kranken Frauen. Damals waren die Geschlechter noch getrennt, es gab große Säle und es war ein unhaltbarer Zustand. Ich war ratlos, ich habe dieses Mädchen sogar zur Schule begleitet, ich habe mich wirklich angestrengt, aber ich wurde allein gelassen. Die Pastorin stieg dann noch ein und vermittelte etwas. In Hamburg Eppendorf gab es eine Kinderpsychiatrie, die war sogar ganz fortschrittlich – die erste Universitäts-Kinderpsychiatrie, eine Elite Klinik, dort arbeitete ich von 1964 bis 1968. Was die aber dort gemacht haben, da waren so Kinder, die in die Hose gemacht haben mit zehn Jahren – die Lagerkinder, die verwahrlost waren…
Was für Lager?
Damals waren noch viele Flüchtlingslager…
Was für Flüchtlinge?
Ja, aus dem Kriege… Die irgendwoher aus den Ostgebieten kamen. Die ausgebombt waren.
So spät noch? Waren die immer noch in den Lagern? Zwanzig Jahre nach dem Krieg?!
Wir hatten damals mehrere große Wohnlager in Hamburg. Lager Eggerstedtstraße fällt mir ein. Die Kinder, die da aufgewachsen waren, waren natürlich psychisch schwer gestört.
Warum?
Ich weiß es nicht. Also wir sprachen von Milieuschaden. Weil dort so chaotische Verhältnisse waren. Also, ich war aber nie in einem Lager drin – das ist auch wieder so typisch. Wir waren die Eppendorfer, wir waren die Elite – aber dass wir einmal hingehen und uns das anschauen… Wir haben einfach gesagt „Milieuschaden“.
Aber ihr wußtet gar nicht, wie das Milieu ist?
Nee. Wir haben sie einfach weiter vermittelt in Heime, und das war natürlich größter Quatsch. Aber das war damals so die Vorstellung: dass die heilpädagogischen Heime heilen würden. Die Therapie war häufig eher schädlich als hilfreich. Die meisten, also zumindest die großen Heime, haben mehr geschadet als genutzt. Man denkt immer, 1945 war der Krieg bewältigt, aber so war es nicht. Es gab immer noch so einen Bodensatz von Menschen, die verelendet waren.
Und das waren Deutschsprachige aus Ostgebieten?
Man nannte sie Flüchtlinge. Das hat sich dann auch noch so verfestigt, um die hat sich niemand gekümmert. Das Wirtschaftswunder entstand ja durch Profit Orientierung und nicht durch Gemeinwohl Orientierung. Und die hat man dann halt so – na ja – so belassen. Also sozial war man damals nicht so sehr.
Das war ja auch CDU-Regierung, Adenauer und so…
Die kannten es auch nicht anders. Es mußte ja erst einmal voran gehen. Es war ja so viel kaputt. In Hamburg waren bestimmt Zigtausende Menschen in solchen Lagern. Die genaue Zahl weiß ich nicht.
Wie kamen die Kinder zu euch? Wurden die durch die Polizei oder durch Sozialarbeiter zwangsgeschickt?
Zum Teil durch die Eltern oder von den Jugendämtern. Verwahrloste „Milieuschaden“-Kinder… Ich war völlig ratlos und fühlte mich schuldig. Ich hatte ja eine Verantwortung für diese Kinder und konnte so gar nichts Richtiges tun. Ich bin mehr oder weniger geflohen. Ich hatte auch keine feste Stelle.
Hattet ihr kein Team, oder konntest du nicht mit dem Chef oder mit Sozialarbeiter_innen reden?
Wir hatten eine tüchtige Psychologin. Das war ja damals noch so, dass die Psychiater als Ärzte alles können mußten und die Psychologen – das war ein neuer Berufsstand, der sich erst seine Position erkämpfen mußte. Die Psychologin erzählte mir also, was mit den Kindern los ist und ich mußte plötzlich Elternberatung machen… Die Psychologin hatte die Ahnung, ich doch nicht. Ich hatte die Rolle als Arzt auszufüllen. Das war nicht gut. Aber es war halt so üblich. Aber man konnte eh nicht viel machen.
Aber der Weg war der, die Kinder den Eltern weg zu nehmen und in Heime zu stecken.
Oder mit irgendwelchen schlauen Briefen wieder zurück zu schicken. Das war wenig effizient. Diese Lager wurden dann Ende der 60-er oder Anfang der 70-er Jahre aufgelöst. Es kann durchaus sein, dass diese Kinder in den sozialen Wohnungsbau gekommen sind, aber dass dieser „soziale Milieuschaden“ weiterhin bestanden hat. Am Flughafen war ein großes Lager mit so Nissen-Hütten aus Blech, Wellblech – wie in Afrika vielleicht. 1972 kriegte ich dann den Auftrag eine Alkoholikerabteilung auf der Psychiatrie aufzubauen, weil die Trinkerheilstätten überfüllt waren, aber nur eine Erfolgsquote von zehn Prozent hatten. Die Trinker mußten in Schweineställen arbeiten! Die Psychiatrie hatte aber die Sucht-Patienten immer als moralisches Problem abgelehnt. Die wurden mit Predigten behandelt (lacht) – also das war alles Käse.
Augustin Nr. 308, 2.11.2011 – 15.11.2011
Der zweite Teil des Interviews erscheint im nächsten Augustin