postheadericon Nightmares come true

Der Sadist realisiert seine persönliche Hölle mit echten Menschen und muss schon gar nichts mehr machen – die Gefangenen quälen sich gegenseitig.

Mit einem kraftvollen, riesigen Satz springt der Sadist auf die Bühne zurück, nachdem er lange oben im Dunkeln verharrte – von einer Empore, einer Brüstung, einer Art Balkon neben dem Zuschauerraum aus das Treiben der Gefangenen beobachtete. Der Sadist trägt eine rote Baskenmütze, einen langen dunklen Mantel, Stiefel, eine schwarze Maske vor dem Gesicht und ein Lederarmband mit Nieten. Unheimlich, wie er lange ruhig und trotzdem gespannt beobachtet, unheimlich, wie emotionslos er seinen Aufgaben nachgeht, die Gefangenen in Angst und Schrecken zu versetzen, nur ab und zu lacht er laut und amüsiert sich auf seine Weise – in der Tradition der Erotik der Dominanz.

„Sho Kman“ („Was noch?“) heißt die anstrengende und gewaltvolle Performance von jungen Palästinensern aus dem Flüchtlingslager Jenin, die im Wiener „Dschungel“ im Museumsquartier für österreichische Jugendliche ab 14 Jahren zu sehen war.

Nur mit Gewalt leben können

Das „Freedom Theatre Jenin“ sperrte nach der Ermordung seines Theaterdirektor Juliano Mer-Khamis am vierten April dieses Jahres durch unbekannte Täter die Türen des Theaters zu und die entsetzten Jungs begannen zu proben. Bei Jenin liegt das ärmste, am meisten attackierte und brutale Flüchtlingscamp im Westjordanland, hier leben 17.000 Menschen, darunter 3000 Kinder auf engstem Raum. Das Lager ist von einem elektrischen Stacheldraht-Zaun umgeben. Selbstmord-Attentäter wuchsen hier auf und nahmen, salopp gesagt, die Abkürzung in ein ruhigeres Leben.

„Hier geht es nicht um Stücke wie Romeo und Julia“, sagt die englische Dramaturgin Zoe später, die als einzige nach der Ermordung Julianos in Jenin blieb, „die Jugendlichen zeigen Fragmente aus ihrem Leben. Hier geht es um Gewalt, die nicht notwendig ist. Die Jugendlichen können nicht ohne Gewalt miteinander umgehen.“

Nebel über der Szene, lautes Flugzeug-Dröhnen, Angriffe, die Schauspieler stürzen herein, Hände über den Kopf geschlagen, gebeugt, Beschuss von allen Seiten. Hier klammern sich alle aneinander und um die nötige Distanz zu erreichen, brüllen und schreien sie sich gleichzeitig an, Wut Ausbrüche folgen. Kaum ist der Folterer, der Wärter, der Sadist weg, quälen sie sich gegenseitig, gehen wie wilde Tiere aufeinander los, ein Inferno. Im Eingangsfilm konnte man kleine Mädchen sehen, die aus Ruinen heraus lächeln und definieren, was für sie „Freiheit“ bedeutet, nun herrschen die wilden Kerle auf der dunklen Bühne vor. Ohne Worte, wortlos, nur mit Gebrüll. Beschäftigen sich mit boshaften Spielen, stellen Körperkontakt auf boshaft her. Eine bedrohliche Tanz Performance mit muskulöser Anklage auf Rap-Musik. Tiefer Schmerz – dieser Gesang ist nicht schön oder melodiös, aber voller  verzweifelter Emotionen. Man kann ihre Wut verstehen, will aber mit keinem dieser Jugendlichen alleine in einem Zimmer oder gar in einer Zelle sein.

Eigene Sprache aus Geräuschen

Wen wird der Sadist für seine nächste Quälerei aussuchen? Man versteht nichts von der Geschichte, allein die Tiefe der Gefühle. Die unendliche Einsamkeit im Angesicht des Todes und eines boshaften Lust-Quälers – Alpträume, die wahr werden. Hier gibt es keine Fluchtmöglichkeiten mehr und als einziges Ventil der permanenten Bedrohung und Überforderung erscheint die eigene Gewaltausübung, das Auslassen des eigenen Zorns, der unterdrückten Gefühle an anderen. Eine schöne verschleierte Frau mit Stöckelschuhen entpuppt sich als verkleideter Mörder – die raschen Umschwünge sind es, die die Angst auslösen, man kann sich nie sicher sein, sich nie entspannen, jede Stille, jede Ruhe ist trügerisch. Der Sadist realisiert seine persönliche Hölle mit echten Menschen. Auffällig auch die Wortlosigkeit in diesen Erniedrigungs-Kämpfen, das wenige Gesagte versteht man nicht.

„Das war aber weder hebräisch noch arabisch“, merkt ein Zuschauer später an. „Stimmt“, sagt ein junger Schauspieler. „Da niemand auf uns hört, schuffen wir unsere eigene fast wortlose Sprache – das Gibberish. Das ist keine echte Sprache, das sind mehr Laute und Geräusche, Wörter ohne Sinn.“ Und bestätigt damit, dass Gewalt Wortlosigkeit erzeugt, eine Mauer im Körper, in der Kehle, im Brustkorb.

Der Sadist, der im echten Leben ein dünner Junge ist – kaum wiederzuerkennen, erzählt, dass er nach der Ermordung Julianos drei Wochen nichts essen konnte. Er fühlte sich wie ein Stein. Er mußte ins Krankenhaus und schaut noch immer dünn aus. Auf so engem Raum unter so gefährlichen Bedingungen leben zu müssen und nicht weg zu können, als Flüchtlinge im Flüchtlingslager Jenin hinter dem Elektrozaun allen anderen ausgeliefert und ohne Fluchtmöglichkeit – „They became complicated, mad people“, erklärt ein anderer.

Der Sadist muss gar nichts mehr machen, die Jungen vollbringen seine Arbeit der Erotik der Angst und der Dominanz schon an sich gegenseitig – als die einzige Form von Annäherung, die unter diesen gewaltvollen Umständen möglich ist. Distanz und Nähe gleichzeitig, Nähe als brutale Distanz. Tanzen in einer Reihe, jeder für sich, immer schneller, stampfen, rotes Licht von unten. Signalton.

 

Ersterscheinung auf der VIDC-Homepage/kultureninbewegung am 7.11. 2011

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