Der Kopfbahnhof. Abgesang auf den Südbahnhof
Nie wieder, für immer, los lassen, Abschied nehmen. Zeiten der Transition und des Abrisses. Unsere Gesellschaft kennt wenig Rituale für gemeinsame Festlichkeiten oder Trauerangelegenheiten. Und auch keine öffentlichen Orte dafür. Wo sind die Fluchtlinien, die eine Gesellschaft nötig hat? Warum war niemand vorbereitet, dass die obdachlosen Bewohner des Südbahnhofes nicht wissen wohin, wenn ihre Wohnstätte gesperrt wird?
An dem Abend, an dem der Südbahnhof zugesperrt und endgültig geschlossen wurde, sah ich mehrere von ihnen: Grantige Obdachlose, die wie aufgezogen und Flipperkugeln gleich mit dem Rucksack auf dem Rücken über die Treppen und durch die große Halle hirschten, mit bösem Gesichtsausdruck in konzentrischen Kreisen ihr Territorium bemassen, nicht glauben konnten, dass eine Ära, ihre Ära zu Ende ginge. Skurille Gestalten feierten an diesem Abend den Abschied vom Südbahnhof, einem Untergang gleich, ihrem Untergang, im Gefühl selbst austauschbar zu sein und älter und einsamer zu werden, in Angst verhaftet und in der zunehmenden Sicherheit, dass auch sie ausgemusterte Figuren seien – ähnlich dem Bahnhof, der ihre Kindheit und Jugend prägte. Tränen standen vielen in den Augen. Der Fortschrittsglaube macht viel kaputt.
„Gestandene“ ÖBBler wagten ein Tänzchen in der zugigen Halle im hinteren Teil Richtung Ostbahnhof – auch sie mit Rucksäcken, in Uniformen, mit ÖBB-Schrift auf dem Rücken. Schaffner und Zug-Stewards, Trolleys hinter sich herziehend, rannten an der Menge vorbei und winkten. Aus der Steiermark war eine Band geladen, mit asiatischer Sängerin, die auf ihre Weise gut paßte zu den ländlichen Dialekten, die allerorts zu hören waren.
Im Südbahnhof begann also nicht nur die Fahrt nach Triest ans Meer, sondern auch der Weg in die Provinz. Einfallstor des ländlichen Raumes und seiner Gepflogenheiten. Nie zuvor habe ich den Mangel gespürt, dass die Bundesländer in Wien keinen Ort haben, in der Großstadt, dem urbanen Raum. Wo sind die Verbindungslinien, wo die Fluchtlinien, die eine Gesellschaft nötig hat? Wo verlaufen die Kontakte, die „Kommunikationen“, wo sind die Kommunikationsorte? Oder ist es getrennter Raum, Land hier, Stadt da und nur die Shoppings Center in den Vorstädten und die Autobahnen bilden den Übergangsraum? Cash as cash can als Verbindung? Die große österreichische Gemeinschaft der Autofahrer und Parkplatzsucher?
Die Weiten vor den Toren Wiens
Alles „Überflüssige“, alles Vergangene bei lebendigem Leib feierte sich hier im Südbahnhof – ein letztes Mal, nie wieder, für immer Abschied nehmen, gehen… Übergänge von einer Lebensphase, einer Ära in die andere, von einem Regierungssystem ins nächste – ganze Länder in Südosteuropa mußten los lassen, „Transition“ nennt sich die Zeit, in der die alten Werte nicht mehr gelten, Zeit des Abschieds ist. Abriss der Vergangenheit, ein Ende kommt, „die Moderne“ setzt sich durch, der Fortschrittsglaube lebt.
Ich kenne jeden Winkel, jede Ecke dieses meines Südbahnhofes, laufe herum und versuche möglichst viele Eindrücke in meinem Bildgedächtnis zu verstauen, seine Geheimnisse zu bewahren, aufzuheben. Wie viele andere BesucherInnen auch, die mit Fotoapparaten sich Bilder retten, sich nicht vorstellen können, dass hier an diesem Ort ein Krater in der Erde Richtung China, eine riesige Baulücke klaffen wird. Die schöne Glasdecke in der großen Halle, die mit schwarzen Platten zugedeckt ist und wenig Licht und Sonne von oben durchläßt. Der freie Raum, die Höhe der riesigen Halle, die eine Ahnung von den Weiten da draußen vor den Toren Wiens gibt.
Ein Übergang vom Dreck und Schmutz der Stadt und den heran und heraus gespülten Figuren in Richtung Ferne, Süden – grüne und blaue Dehnbarkeit des Horizonts. Zu Zeiten des Bosnienkriegs fiel hier eine bosnische Frau in Ohnmacht und lag ein paar Stunden bewußtlos auf dem Boden, als sie ihren Peiniger erkannte, einen in Österreich lebenden Söldner, der jedes Wochenende in den Krieg fuhr.
Man spürt eine tiefe Traurigkeit und Vergeblichkeit und Liebesmüh. Ich bin kein Landmensch, der weiß, dass wieder etwas Neues kommen wird, heran reifen, auf den Feldern nachwächst im Rhythmus der Jahreszeiten. Heraus aus dem flüchtigen Paradies von Ankunft und Abfahrt, Menschen zum Zug bringen oder abholen. Stehen und winken. Unzählige Abschiede. Ich träume, dass ich meinen Koffer in Meidling nicht rechtzeitig aus dem Zug kriege und denke, fahren wir halt bis Südbahnhof. Die Endstation gab Sicherheit. Der Kopfbahnhof.
Obdachlose in Gesellschaft
Sandler werden angezogen von gesellschaftlichen Großereignissen und öffentlichen Räumen, sie wollen ebenfalls Teil der Gesellschaft sein, mit Distanz sozial integriert, aufgenommen in die Gemeinschaft der Menschen. Als Freie, als Charaktere, als „wilde Wesen“, die nirgends und überall zu Hause sind, von Charme und Aggressionen geprägt die Gesellschaft widerspiegeln – die Armut der ausgeschlossenen Elemente körperlich darstellen, uns ihre Charakterköpfe und ihr materielles Elend vor Augen führen.
Hier am Südbahnhof wird in dieser Nacht eine Frau aus einem Abteil eines stehenden Zuges davon laufen, aufgescheucht von einer Kontrolle, ihre Tasche an ihrem provisorischen Schlafplatz zurück lassen, in Morgenmantel und Strümpfen durch den Bahnhof laufen, auf der Suche nach einem sicheren Platz. Hier am Südbahnhof wird in der Früh, es ist der 13. Dezember 2009 und es hat einiges unter Null Grad Celsius, ein Obdachloser neben der Eisenkette, mit der die Tore zu seiner Schlafstätte verschlossen wurden, an der Wand lehnen, zu müde um irgendwohin zu gehen, nicht wissen wohin. Ein alter Mann in Mantel und Stiefeln aber ohne Plastiksackerln. Ich habe ihn gesehen und ich wußte auch nicht, was ich tun sollte. Wie ein lebendiges Denkmal sah er aus, gegen die Wand gelehnt, eine menschliche Skulptur fest gefroren an den Mächten, die ein Shopping Center und eine Bankzentrale auf einen öffentlichen Ort, der für alle zugänglich sein sollte, stellen werden. Sich ein modernes Denkmal errichten wollen, auf dem dann nicht mehr „Südbahnhof“ stehen wird, sondern lapidar „ÖBB“ – wer immer das in Wirklichkeit sein mag – eine Verwertungsgesellschaft, eine Dienstleistungsgesellschaft? Dienst und Leistung und Gesellschaft. Aber mit dem letzteren ist wohl nicht das große Ganze, das Gemeinwohl, gemeint. Weg mit dem menschlichen Leistungs-„Abfall“, ab in den Schweizer Garten, in dem es eisig ist in dieser Nacht.
Letzter Zug um Null Uhr Fünf
Kein Wunder, dass sich im besetzten Audimax so schnell Obdachlose einfanden, angezogen von der Möglichkeit auf Veränderung, den revolutionären Zuständen, der Elektroheizung und der Volksküche der Jungen und ihrer guten Stimmung. Angezogen von der Gemeinschaft, dem Gemeinschaftsgefühl, der Freude, die es macht unter Menschen zu sein, an einem öffentlichen Ort, wo etwas los ist, an dem gemeinsam etwas weiter geht. Stücke von Glück, Fragmente. Erstmalig wird klar, dass es südosteuropäische Obdachlose in dieser Stadt gibt, heran gespült von ihren Ländern, in denen Transition herrscht, Übergang nach der Ankunft der österreichischen Banken, durch korrupte Regierungen – Steinzeit-Kapitalismus pur, Sozialdarwinismus live.
Im Südbahnhof sitzt eine Frau mit bunter Brille und gestrickter Kapuze auf einem Bankerl, mit dieser Aura der Undurchdringlichkeit. Sie redet mit sich selbst, man versteht nicht was. Ihre Psycho-Schutzhülle fängt sie auf und mildert den Effekt der Verlassenheit. Es ist so kalt von unten von dem fleckigen Terracotta Boden her, weiss, gelb, rostrot, braun, beige, es zieht quer durch die Halle, die Glastüren zum Ostbahnhof hin stehen offen, man kann überall durchsehen. Noch ein Obdachloser mit zornigem Blick und Binkerl am Rücken.
Der letzte Zug fährt ab um Null Uhr fünf nach Maribor, man kann mitreisen bis zum Eisenbahnmuseum nach Mürzzuschlag, um sechs Uhr früh geht es zurück nach Wien. Die Nacht durch machen, die letzte Nacht des Südbahnhofes. Er will mit im letzten Zug, erzählt Herr Eder, Leiter der Technischen Abteilung des Kunsthistorischen Museums. Ich fotografiere ihn mit seiner Kamera zum Andenken.
Die steirische Band SMASH war eine gute Wahl der ÖBB-Immobiliengesellschaft. Die asiatische Sängerin zieht sich ihren Mantel an, mit Evergreens und rockigen Hits verbreitet sie trostreiche Stimmung von der Bühne herunter. Zu ihren Füssen drehen sich die Pärchen im Kreis. Die zweite, blonde Frontfrau wird immer wieder gestenreich von einem Betrunkenen aus dem Publikum bequatscht, von unten her. Tische und Holzbänke sind mit rotweiß-gestreiften Tischtüchern aus Papier versehen. Mit Eisen behängte Punks streunen und hüpfen mit ihren Hunden herum, fesche junge Türken, die der Kleidung nach für die ÖBB arbeiten, wiegen sich hin und her, ziehen ihre Kreise mit den klassisch schlängelnden Armbewegungen, ein altes Paar umarmt sich liebevoll auf der Tanzfläche – es gibt wenige gesellschaftliche Großereignisse, in die verschiedene soziale Gruppen eingebunden sind, sich treffen können, feiern. Notwendige Rituale begehen, wie Abschiede. Epochale Verabschiedungen. Für immer und nie wieder. Einige filmen die Wände mit den gelben und türkisen Mosaiksteinchen, kratzen mit den Fingernägeln über die Oberfläche, ob sich eines heraus brechen ließe. Man kann in der Lok eines Zuges mitfahren, hin und her ein Stückchen, nicht zu weit weg vom Südbahnhof und zurück. Ein kleiner Stricher mit nacktem Oberkörper strippt an einer imaginären Stange und lächelt. Ein Sandler mit langem weißen Bart und Haaren kriegt seinen Wein-Tetrapack schwer auf. „Ich glaube nur an den Krampus, ein wilder Teufel“, sagt er. Ein paar Meter weiter steht sein voll bepackter Wagen mit Seilen verschnürt, eine hohe Skulptur, die der Besitzlosigkeit trotzt.
Tanz der verlorene Gestalten
Fragile Personen, heftige Abschiedsstimmung von allen Seiten und Ebenen, Verbannungen. Aber von was sagen sich diese Menschen in Wirklichkeit los? Alles verlorene Gestalten, die um sich selber bangen müssen, ob sie nicht bald selber abgerissen werden mit Mindestpension und Mindestlohn und Prekariat und kleinen Jobs in der „Schattenwirtschaft“. Keine unsichtbaren Gestalten, unsichtbar sind die nicht, absolut nicht, sie sind hier mitten unter uns in der Öffentlichkeit, vor aller Augen. Und schauen böse und vorwurfsvoll. Was macht ihr mit mir? Wo ist meine Gesellschaft?
„Wenn du jetzt gehst, dann siehst du mich wahrscheinlich nie im Leben wieder“, sagte die Obdachlose Michaela zu mir, die mit einem Gipsfuß am Eingang des AKH stand und sehnsüchtig und ängstlich in den Schnee im Park schaute. „Wie ich den Winter überlebt habe, weiß ich nicht. Ich habe nicht einmal einen Hund für die Wärme in der Nacht.“ Im langen Fellmantel mit verfilztem Haaren und hübschem jungen Gesicht, den Kellner antreibend wegen dem Nachschub an weißen Spritzern, in einer Pizzeria. Der ägyptische Chef lachte. Ich mußte trotzdem gehen.
Es schneit leicht um sechs Uhr früh, nur wenige Autos fahren leise im Schnee am Südbahnhof vorbei. Es hat minus zehn Grad Celsius. In dieser Nacht auf den 19. Dezember 2009 feierten um die 5000 Jugendliche ihre Version eines Abschiedes vom Südbahnhof. In langen Schlangen standen sie in der Kälte, um Einlass in die überfüllten Räume mit Dance Floors auf verschiedenen Ebenen zu erhalten. Wir schlichen hinten herum hinein in unseren Südbahnhof, über die gewundene Straße beim Ostbahnhof hinauf, die die Zu- und Abfahrt von Autos für die Autoreisezüge gewährte. Vanja stöckelte in goldenen Sandaletten, Georg rannte neugierig im Anzug mit Hut herum und Peter grinste breit mit Einkaufsackerln voller Folder und Plakate in den Händen, die er immer wie ein Sandler mit sich herum schleppt. Alles tanzte die ganze Nacht. Ein Mega-Rave mit 5000 jungen Menschen in schöner Atmosphäre. Feierlich aßen wir Gulasch in der mittleren Halle. „Wir waren dabei in der letzten Nacht des Südbahnhofs“, sagte Peter. „Das können wir unseren Enkerln erzählen.“ Statt einer Kunsthalle a la Hamburger Bahnhof in Berlin wird hier nun ein langweiliges Shopping Center entstehen, auf dass die Geschäfte wieder vergammeln und der Zugang zum Süden erneut abgerissen werden darf. Und von Baufirmen teuer befüllt.