Marianne Fritz: Die Rübenmüdigkeit
Konzepthalter aus Plastik, ein Lesepult aus den Resten von Spanplatten, Versuchsschachteln. Kugelige Texte in Bildern, räumliche Bilder in Texten: Zwei Menschen arbeiten jahrzehntelang in ihrer Wohnung zusammen. Die Frau schreibt, der Mann recherchiert. Otto Dünser, Lebensgefährte von Marianne Fritz, im „Standstill“ einer Wohnung.
Tief und ironisch klingt die Stimme aus dem Gang zwischen Backsteinwänden hervor. „Muss ich nun den Blättern der Rüben meine Seele geben? Ich spüre die Rübenmüdigkeit in mir. Die Gier nach Rüben kommt in der Rübenmüdigkeit zu ihrer Grenze.“ Träumerisch verspielt folgen noch lauter Worte mit Ü’s in Poetik verspannt, wie das Gemüt und immer wieder die Rüben und die Rübenmüdigkeit. Es klingt ein bißchen so, als ob jemand schlafwandlerisch vor sich hin spricht, nicht ganz da und nicht ganz fort. „Alle Pflanzenkrankheiten müssen sich irgendwo ansiedeln dürfen, um sich zu spüren“, tönt es aus dem Lautsprecher. „Die ihre Müdigkeit spüren. Wurzelbrand. Die Rübe.“
Von allen möglichen Pflanzen überwuchert ist das Schloss Neugebäude bei der Kaiserebersdorfer Straße* ein passender wilder, ruinenhaft verlassener Ort, um das Bildhafte in der Sprache von Marianne Fritz räumlich umzusetzen. „Zur Störung gehört der Gestörte“, dringt eine Stimme aus einem Steinhaufen, um sich in der hohen Halle zu verlieren. Die Zuschauer können sich rote Sturzhelme gegen die Gefährdung durch Taubenkacke von oben auf den Kopf hieven. Wortfetzen und Halbsätze wie „innere Beteiligung an der Selbstzerstörung“, „um mithalten zu können, beschwören wir das Feindselige“ oder „die das Normale vom Volke unterscheiden…“ lassen assoziatives Denken zu. Das Publikum ist ständig mitten in der Szene, spielt mit. Die Menge wogt hin und her, manche verfolgen die einzelnen Schauspieler, laufen ihnen hinterher, um ja keine Wortspende zu verpassen. Teilweise setzen sich welche in eine lange Reihe von hintereinander aufgestellten Holzstühlen mit klappbaren Schreibbrettchen in die Sonne und warten ab. Teilweise posieren welche, gehen langsam und gestelzt wie auf der Bühne, hängen sich malerisch auf eine Mauer, bewegen sich, als ob eine Kamera auf sie gerichtet wäre. „Der Sinn, die Sinne, verfolgt“, hört man von irgendwoher, „so dass der Sinn oftmals struppig wirkte, als sei er der Unsinn. Auf einen Unsinn läßt sich der Sinn nicht ein.“ Eine Schauspielerin im Ledermantel kommt den Hügel herunter, zieht kleine Lautsprecherboxen an ihren Kabeln hinter sich her. Es staubt. „Schaffst du mich ab, kannst du mich gar nicht unterwerfen. Buchstabe, du willst mich unterwerfen. Der Buchstabe will zu seinem Sinne kommen. Beschleunigung bemächtigt sich des Buchstabens.“ Dann verliert sich der Text. Das Wort „beschwören“ ist noch zu hören. „…ohne Schreckstarre nicht zu haben.“ „…Buchstabe kommt zu seinem vollkommenen Stillstand.“ Die Frau wandert langsam weiter geradeaus, ihre Stimme klingt aus den liegengelassenen kleinen Lautsprecherboxen im Sand. Bis sie verstummt stehen bleibt.
„Otto, mach’ du das“
„Manchmal sang sie beim Schreiben auf der Schreibmaschine die Wörter vor sich hin“, lächelt Otto Dünser fein. Der Lebensgefährte von Marianne Fritz umkreiste seine Lieblingsschriftstellerin wohl im Karussel der Türen der Wohnung. Beinahe dreißig Jahre lang. Marianne Fritz verließ ihre Wohnung jahrelang nur ganz selten und arbeitete dort fleißig als Erzählerin „von Sonntag bis Montag und von Montag bis Sonntag“ täglich mit Wörtern und „wählte den Zehn Stunden Tag“, wie sie in ihrem allerersten Radiointerview vor dem Erscheinen der „Schwerkraft der Verhältnisse“ sagte. Und wirklich gibt es in einem Regal einen Ordner mit der Beschriftung „Wo ich gehe, wo ich stehe, was ich sehe, wenn ich draußen bin“, der ist aber auch zusätzlich mit „Flunker Routen“ gekennzeichnet. „Ihre Figuren brauchten viel Platz. Irritation von draußen würde den Figuren fehlen, die man schreibt oder sie würden anders aussehen. Sie musste ihren Figuren gerecht werden. Die haben ihre Existenz“, sagt Dünser und fügt hinzu: „Ich ging aber für sie hinaus. Das Hinausgehen war meine Aufgabe. Am Anfang recherchierte sie schon mit im Kriegsarchiv in der Stiftgasse. Wir wollten 30.000 Fotos durchschauen. Dann sagte sie: Otto, mach du das.“ Das Licht draußen ist so mittelblau, wie es nach einer durchgemachten Nacht um fünf Uhr früh leuchtet, kurz bevor die Sonne aufgeht. Der lange Otto Dünser lebt in der Wohnung wie in einem Museum, hier ist die Zeit stehen geblieben. Erst vorletztes Jahr ist Marianne Fritz gestorben. In der eierschalenfarbenen Küche steht die Badewanne auf geschwungenen Füssen, der Küchentisch ist wie alle Möbel in der Wohnung und sogar das Bett auf Rädern montiert und beweglich. Der Küchentisch kreist und turnt in der Wohnung herum wie Dünser auch. Marianne Fritz starb an einer Bluterkrankung. Otto Dünser lebt mit ihrer – irgendwie noch immer vorhandenen, spürbaren – Anwesenheit und in ihrem Geiste alleine in den vier Zimmerchen weiter. „Was sind eigentlich Sie von Beruf?“ Der dünne Mann mit Brille und Schnurrbart rennt eine Runde, denn jedes Zimmer verfügt über mehrere Türen und alle Räume sind miteinander im Kreis verbunden. Plötzlich taucht er durch eine andere Tür wieder auf: „Maler bin ich.“ Dann läuft er wieder davon. „Umbruch 1 bis 3283“, steht auf einem Heft. „Korrekturen.“ Die Ordner sind alle ordentlich und voller Humor beschriftet: „Das Buch der Tage“, „Dajsterja der Prozeßgott, der Andere“, „Kleine Knospe. Das Nicht Merkmal“, „Überlebenstechnisch Vertretbar“ oder „Die Buckelurne“. „Marianne kam aus einem Arbeiterhaus. Sie machte die Matura nach. Sie hat sich alles selbst erarbeitet“, erklärt Dünser die akribische Recherche, die wissenschaftliche Informationssucht, die ihre Spuren hinterließ. Er hat die Rollen unter die Möbel montiert, die Regale aufgestellt. „1979 zogen wir ein, da gab es nur auf dieser Wand zwei bis drei kleine Regale.“ Mittlerweile ist kein Platz mehr frei. Im Arbeitszimmer spricht Otto Dünser ständig von „Wir“. Auf der einen Seite des Tisches stehen wirklich zwei gleiche schwarze Leder und Chrom Stühle nebeneinander, auf der anderen zwei gleiche Bürostühle auf Rollen in trauter Zweisamkeit. Zeichnungen und Skizzen liegen auf dem Tisch mit Stufen der Ereignisse im Roman: „Erschießt den Langsamsten der Erdfarbenen, rettet damit dem Krieg das Leben.“
Sich Kommunikationen ausmalen
„Sie wollte immer das beste Material. Das beste Material hat häufig nur das Militär gehabt, das zum Krieg führen die genauesten Karten braucht“, erzählt der Malermeister, der schon Schriften vergoldete. „Sie studierte und verfolgte genau die Flüsse, Furten, Ufer, die Fließgeschwindigkeit, das Flußbett. Dann benannte sie die Flüsse als eine Möglichkeit nach ihren Läufen und Eigenschaften – z.B. den Zerrissenen.“ Von seinen Erinnerungen aufgescheucht hüpft er um die Ecke und zieht unter einem Berg von Mappen eine hervor, in der Flußkarten gesammelt sind. Mit lila Filzstift ist in kleiner, kugeliger Flußschrift genaustens vermerkt, was dieser Fluß an Eigenheiten zu bieten hat. Das Ergebnis sieht wie Kunst aus und könnte in dieser Form sofort als Bild ausgestellt werden. Von Spannungsfeldern und Textgeländen ist bei Fritz die Rede, in den Texten gibt es eigentümliche räumliche Ereignisse wie Luftlöcher, durch die man von einem Zeitabschnitt in einen anderen schlüpfen kann. Oder seltsame Verbindungen zwischen Orten und Handlungen – alle Straßen, Alleen und gepflasterten Wege werden als „Kommunikationen“ bezeichnet. Eigene literarische Formen entstehen durch und mit Hilfe von Visualisierungen: „Faschismus mußte immer Fasch IS mus geschrieben werden und brauchte das Unendlich-Zeichen darunter. Das hat müssen so sein.“
An der Außentüre steht ein gelb grün rotes Plastikkästchen mit Schubladen voller Nägel und Schrauben. Und ein „Polen-Karton“. Darin ein liebevoll gebundenes Album, das Dünser auf dem Flohmarkt fand. Auf der linken Seite sind Porträts von Dackel Waldi eingeklebt, gegenüber Fotos von Toten im Zweiten Weltkrieg in Polen und eine Synagoge, die brennt.
Das Welten-Werk voller Wort-Witze der Marianne Fritz müßte jetzt wohl ihr Lebensgefährte am Leben erhalten. Die Wohnung ist sehr ruhig. „Die Gedanken können hier gehen“, sagt der Ausmaler Otto Dünser und verschwindet. Von außen glänzen die Rahmen der von ihm frisch lackierten Holzfenster im Abendlicht.
*„Sie haben die Wahl. Eine Zwangsvorstellung“, Fritzpunkt, Büro für theatralische Sofortmaßnahmen. Ein Konzept des Stadt Theater Wien
Ersterscheinung in der „art in migration“ Nr. 9 unter dem Titel „Zur Störung gehört der Gestörte“