postheadericon Kampusch: Kleine Überlebens-Künstlerin

Natscha Kampuschs Buch über ihre Gefangenschaft und Folter ist wirklich erstaunlich. Denn es konzentriert sich auf die kleinen Strategien und Tricks, sich Tag für Tag beinahe künstlerische Ideen auszudenken, um sich selbst zu unterstützen. Denn die größte Gefahr angesichts eines übermächtigen Täters ist sicher, in die Selbst-Auflösung, die Selbst- auslöschung zu verfallen – sich als eigenständige Person aufzugeben und die  herabwürdigenden und gemeinen Werte des Täters zu internalisieren.


Ob sie sich das Vorzimmer der mütterlichen Wohnung an die Wand zeichnet, um zu imaginieren, dass ihre Mutter jeden Moment herein kommen könnte, oder ob sie sich Franzbrandtwein auf ihre Hand schmiert, weil der Geruch ihrer  Großmutter ihr hilft, einschlafen zu können – es ist überwältigend, wie stark dieses Kind sich selbst immer wieder vor Verzweiflung retten konnte. Betroffene von Gewalt sollten das Buch trotzdem langsam und mit Pausen lesen, denn es ist natürlich schon triggernd, sprich, es kann starke Angstgefühle auslösen. Trotzdem, in einer Zeit, in der das Kampusch-Buch von dem ehemaligen Kriegskind Thomas Chorherr in der „Presse“ als „Märchenbuch“ bezeichnet wurde, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Kinder oft der Lüge bezichtigt werden, wenn sie seltsame Situationen oder Gefühle schildern. Bzw. dass viele Menschen eigene Erfahrungen so stark von sich abgetrennt haben, dass sie sogar offensiv gegen andere vorgehen, die öffentlich über diese Erlebnisse berichten und eine Art von Wertschätzung erfahren. Der Täter scheint, um sich selbst zu schützen, ein „inneres Kind“ von sich selber sozusagen nach außen verlagert und abgespaltet zu haben – in ein echtes Mädchen hinein, das er dann wie ein sadistisches Elternteil  selber quälen konnte. Diese „Täter-Überlebensstrategie“ würde auch erklären, warum Priklopil „sexualisierte Formen“ des Mißbrauchs nicht so dringend verwenden „musste“.  Kampusch: „Er schrubbte mich ab wie ein Auto.“ Hoffen wir, dass ihr wenigstens die sexuelle Gewalt erspart blieb, über die nun viele spekulieren, weil sie genau wissen, wie oft Kinder damit konfrontiert sind.

Natascha Kampusch (mit Heike Gronemeier und Corinna Milborn): 3096 Tage, List Verlag, 2010

Erscheinen im Augustin, April 2012

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