Dr. Bert Kellermann: „Ausländer beim Roulette besonders bevorzugt“
Wie „Fremde“ in der Tradition des Glücksspiels stehen und auf welche Weise Glücksspielsucht mit Konflikten zwischen „Gastarbeiter“-Vätern und ihren Söhnen zu tun hat, erklärt Bert Kellermann, ehemaliger Chefarzt der Suchtabteilung auf der Psychiatrie in Hamburg Ochsenzoll. Selbsthilfegruppen seien der einzige Weg, denn „gegen Sucht gibt es keine Pille“. Aber Achtung: „Die Pharmaindustrie hat eine sehr starke Lobby.“
Wie hat sich das Glücksspiel entwickelt? Gab es eine rasante Entwicklung?
Schon vor der Erfindung des Roulettes im 19. Jahrhundert in Frankreich war das Würfelspiel als Glücksspiel bekannt und beliebt. Schon im 17. Jahrhundert schrieb ein Arzt ein Buch über die Sucht des Würfelspielens. In Venedig gab es Würfelspiel-Casinos, die wurden dann aber verboten. Roulette durfte man nur in Casinos in Kurbädern spielen, damit die reichen Leute, die sich Kuren leisten konnten, abgemolken wurden. Arme Leute durften nicht Roulette spielen. Mit dem Profit wollten Städte wie Wiesbaden Gutes tun. Ausländer wurden besonders bevorzugt, so dass sie in den Kurbädern ihr Geld verlieren durften. Ich schrieb ein bisher unveröffentlichtes Buch über den Spieler Dostojewski unter Verwendung der Tagebücher seiner jungen Frau. Die junge Frau war kurz vorm Suizid. Dostojewski war in Russland ungefährdet, da gab es kein Roulette, er spielte in Wiesbaden. 1871, nach der Gründung des deutschen Reiches, wurden alle Casinos geschlossen. In Frankreich auch. Damals war man sozialer eingestellt und man dachte, das was Unglück bringt, müssen wir
verbieten. Realität war, dass es bis in die 1970er, 1980er Jahre in Deutschland kaum Glücksspielsüchtige gab, erst ab 1949, als die ersten Bundesländer gegründet wurden, eröffnete man immer mehr Kasinos. Die Landesregierungen brauchten Geld für den sozialen Wohnungsbau. In der DDR gab es vor der Wiedervereinigung kein Glücksspiel. Es ist natürlich anregend, wenn ein Staat kurzsichtigerweise das Glücksspiel propagiert.
Ab wann tauchten dann die ersten Glücksspieler auf der Psychiatrie auf?
Die Mehrzahl waren junge Spielhallen-Glücksspieler und kamen ab der ersten Hälfte der 1980er Jahre auf die Psychiatrie nach Hamburg Ochsenzoll. Es gab früher mechanische Automaten, wirkliche Unterhaltungsautomaten, die wurden dann durch elektronische Automaten mit enormen psychologischen Raffinessen ersetzt. Der sehr bekannte Psychologie-Professor für Lernforschung, Brengelmann, war Kriegsteilnehmer gewesen und dachte, Risikolust ist etwas Gesundes. Brengelmann wollte die Risikolust der jungen Leute – es war ja kein Krieg mehr – irgendwie befriedigen und ausbauen. Das war ein Bombengeschäft für die Spielhallen! Die Ochsenzoller Psychiatrie war damals ja immer noch ein Ort des Schreckens, aber die Spieler kamen von sich aus – viele waren wegen des Schuldendrucks, der Obdachlosigkeit und des Verlustes von Partnerin und Kindern suizidgefährdet. Die Krankenkassen zahlten anfangs auch, dann kam aber sehr bald von der Wirtschaft her der Spruch, das ist gar keine Sucht, das ist ja ein Vergnügen. Es wurde durch Lobbyisten heftig gegen die Therapie-Zahlungen angekämpft. Unser Glück war, dass in der wichtigsten „Allgemeinen Ortskrankenkasse“ ein hoher Beamter einen Kousin hatte, der glücksspielsüchtig war und sich erschossen hatte. Der sorgte dafür, dass bei uns weiterhin bezahlt wurde – aber die Gegenseite, die Lobbyisten, war enorm tüchtig, die vernebelten das Problem und bagatellisierten. Wer süchtig wird, wäre ein Psychopath, der hätte nur irgendwelche Kindheitstraumata, was zum Teil auch stimmt – also Menschen, die ein Problem mit ihrem Vater hatten, waren erhöht gefährdet. Viele der Glücksspieler hatten einen Vater, der den betroffenen Menschen nicht anerkannt hat. Einen Tyrannen, einen Diktator.
Siehst du das auch als Generationen Problem, dass diese Väter aus der Nazizeit kamen?
Das spielt sicher eine Rolle. Damals waren es noch Deutsche, aber dann kamen die Türken, bei denen dieses Vater-Problem noch stärker war. Die kamen ab Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre zu uns. Also die zweite Generation der Türken war das damals, die Söhne der Gastarbeiter. Die hatten besonders Streß mit den Veränderungen im Männerbild und den Rollen ihrer Väter, die sie nicht ausüben wollten. Jede Generation hat neue Weltbilder, Sucht hängt mit der Gegenwartskultur sehr eng zusammen. Damals war das die ausklingende Hippie Kultur, eine Übergangskultur. Politisch waren die Glücksspieler nie engagiert – eher Konsum. „Ich muss mich gut fühlen, das war das Wichtigste und sofort hier und jetzt in der Gegenwart.“ Das waren eher Leute, die in der Karriere etwas behindert waren, die nicht so voran kamen – zwar leistungsorientiert, die haben aber sich selbst gegenüber keine Leistung
beweisen können. Das traf eben besonders die jungen Türken. Ein Patient z.B., Sinan, lief mit 16 Jahren nach einem Konflikt mit seinem tyrannischen Vater von zu Hause weg. Später machte er zwei Spielhallen-Überfälle, um seine Sucht zu finanzieren. Über den Beginn seines Automatenspiels sagte Sinan: „Auf einmal war das Glück da!“
Wie änderte sich die Behandlung im Laufe der Jahre?
Es hat sich gezeigt, dass man mit Medikamenten nur sehr wenig helfen kann. Gegen Sucht gibt es keine Pille, jetzt gibt es Unterstützendes, aber das darf man nicht überbewerten. Typisch ist, die Pharmaindustrie hat auch eine sehr starke Lobby und Ärzte glauben den Pharma-Referenten und die Patienten glauben an Medikamente. Das Wichtigste waren die Selbsthilfegruppen, durch die Rückmeldung gegenüber der Gruppe – dass man dann ehrlicher gegen sich selbst wird – das war das Entscheidende, dass man sein eigenes Verhalten, das man nicht mehr kontrollieren konnte, in den Mittelpunkt stellte. Beim Glücksspiel und beim Alkohol ist ja das Einfachste: gar kein Drogenkonsum mehr. Das klingt zwar illiberal und unfrei, aber es ist der einfachste und sicherste Weg gegen die Sucht, völlig auf diese Droge zu verzichten.