„Ein Trauma ist nicht angeboren, sondern wird erzeugt“
Misstrauen, schmerzhafte Erinnerungen, Vermeidungsstrategien: Das schwierige Thema, wie man mit Traumata umgeht und junge Flüchtlinge unterstützen kann, brachte die Psychotherapeutin Barbara Preitler zukünftigen PatInnen näher.
„Die jungen Flüchtlinge bringen alle einen Familien Hintergrund mit – ohne reale, sichtbare, anwesende Familie“, sagt Barbara Preitler, die als Therapeutin auf die Themen Flucht und Trauma spezialisiert und eine Mitbegründerin von „Hemayat“, einer Betreuungsorganisation für Folter und Kriegsüberlebende, ist. „Und es kann sein, dass das eine sorgende, nährende Familie war, in der die Kinder wachsen konnten, es ist aber auch möglich, dass sie zum Beispiel ausgebeutete Kinderarbeiter waren.“ Jeder junge Flüchtling schleppt also unsichtbar seine Mutter und seinen Vater, seine Großfamilie, seine Geschwister mit sich bis nach Österreich. „Sie bringen alle eine Familie mit“, sagt Preitler den zukünftigen PatInnen, die auf junge Flüchtlinge schauen wollen und ihre Schutzpersonen sein. „Aber für alle gab es einen Bruch, die Trennung – was nicht normal ist, für 13, 15 oder auch 17jährige.“
Opfer von Menschen
Außerdem tragen die Jugendlichen, bis sie ankommen, noch alle eine Geschichte der Flucht mit, mehrere Monate bis sogar Jahre dauerte die Reise. „Und die Wege werden immer traumatischer“, erklärt Preitler. „Bei der Ankunft in Österreich sind sie manchmal euphorisch, früher waren die jungen Grenzsoldaten sehr nett zu den Flüchtlingen, freuten sich in Kontakt zu kommen, gaben ihnen Essen. Die Ernüchterung erfolgte dann erst in Traiskirchen oder in der Schubhaft.“ Die PatInnen schauen sehr ernst und hören konzentriert zu. Barbara Preitler führt sie an das schwierige Thema „Trauma“ heran, das entscheidend sein kann, dass der Alltag mit den Flüchtlings-Kids gelingt und die ganz unterschiedlichen Menschen hier im Saal wissen das zu schätzen. „Wir hier selber wissen, wir sind die Guten!“, lacht Preitler. „Aber wer schlechte Erfahrungen mitbringt, weiß das oft nicht. Vertrauen muss erst gelingen.“ Denn alle Jugendlichen bringen auch noch ihre Fluchtgründe mit: „Diese Jugendlichen sind keine Opfer von Naturkatastrophen, sondern von Menschen. Sie kommen aus Bürgerkriegen, die oft älter sind als sie selber. Sie haben nichts erlebt außer Krieg.“ Preitler sagt, was Sache ist, in einer einfachen Sprache ohne Übertreibungen. Sie betont aber auch immer wieder, dass es zu schaffen ist, dass die Jugendlichen bereits viel erreicht haben, dass es Chancen und berechtigte Hoffnung gibt. „Es ist unglaublich, wie gut sie gegenseitig aufeinander aufpassen“, sagt sie. Die Ambivalenz besteht darin, dass der Wunsch nach Nähe da ist, der Wunsch versorgt und entschädigt zu werden, aber alle an zerbrochenen Beziehungen leiden. „Das Misstrauen darf man nicht persönlich nehmen“, resümiert sie.
Die Wahrheit sagen
Der Unterschied zu „normalen“ schrecklichen Erlebnissen ist aber, dass bei traumatisierenden Ereignissen, wenn die Gewalt zu groß ist, die Schutzmechanismen schlecht oder gar nicht wirken und halten – es kommt zu einer Überflutung mit Angst. „Wenn das Trauma auf eine Schwachstelle trifft, wird es schwierig“, sagt Preitler. Wichtig ist, welche Verarbeitungs- echanismen man gelernt hat und auch wie alt man ist. Denn je jünger man ist, desto weniger Schutzmechanismen hat man entwickelt. Wenn Eltern die Kinder abschirmen, überleben sie Krieg und Flucht leichter. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen mit ihren eigenen Ressourcen auskommen. Barbara Preitler, die lange in Südostasien mit Tsunami-Opfern arbeitete, plädiert dafür, Eltern zu motivieren, den Kindern die Wahrheit zu sagen, wenn jemand stirbt oder verschwindet, bevor sie sich selber Gründe und Erklärungen zusammen fantasieren. „Viele junge Flüchtlinge haben den Kontakt zu wichtigen Personen verloren, sie füllen dann die Suchformulare vom Roten Kreuz aus und geben sie nicht ab, denn die Angst vor Ungewissheit ist leichter zu ertragen als eine schlechte Nachricht.“ Inzwischen gäbe es Handies bis ins letzte afghanische Dorf und man könne den Jugendlichen einen Facebook Account einrichten, dann könnten sie mit anderen Jugendlichen aus ihrem Herkunfts-Dorf in Kontakt treten, die vermisste Angehörige suchen gehen. „Überprüfen Sie aber immer selber, ob Sie sich im Moment gerade fit genug fühlen, um sich über Erzählungen indirekt mit der Not der Zurückgebliebenen zu konfrontieren, den Jugendlichen das Zuhören schenken können“, warnt Psychotherapeutin Preitler die zukünftigen PatInnen. „Da bitte nur begleiten und es ansonsten gut sein lassen. Wichtig ist es, die Kontrolle bei den Jugendlichen zu lassen, damit sie lernen, dass sie sich jemand zumuten können. Sich jemand zumuten, der das aushält.“ Schweigen im Saale.
Loben, aber nicht lobhudeln
Noch tiefer wird das Schweigen in der Runde, als Erste Hilfe Maßnahmen bei Trauma-Schocks bzw. Trigger-Situationen oder Dissoziationen angesprochen werden. Die erste Regel lautet: Sicherheit herstellen. Ansprechen, in die Augen schauen, fragen, an der Schulter oder der Hand fassen, wenn das okay ist. „Du bist hier in Österreich und in Sicherheit.“ Ins Hier und Jetzt zurückholen. Klare Regeln wirken angstreduzierend. Preitler erläutert „Flashbacks“ und schmerzhafte Erinnerungen, die „einem dauernd vor Augen stehen“, „in die Netzhaut eingebrannt sind“…und die dementsprechenden Vermeidungsstrategien bei Traumatisierten. Besonders bei sexuellen Gewalt-Erfahrungen können die Opfer bei Auslösern weggleiten, wie in eine andere Welt, erstarren, sie sind nicht mehr da, „neben sich“…
Es folgt eine heftige allgemeine Debatte zum Wort „Störung“, das eine Patin vorschlägt. „Störung lagert das Problem auf das Opfer aus, es ist nicht in Ordnung, dass das Problem über das Wort Störung beim Opfer verortet wird. Es ist eine politische Aussage, posttraumatische Belastungen vom Täter weg auf das Opfer zu schieben“, meint Preitler. „Ein Trauma ist nicht angeboren, sondern wird erzeugt!“, ruft ein Mann im karierten Hemd dazwischen und ärgert sich. „Ein Folterer ist gestört in meinen Augen. Ein Mann, der sich an Massakern beteiligt, hat eine Störung.“ Finden die anderen auch. Wie kann man nun die Jugendlichen unterstützen? „Beloben“, schlägt ein kleiner Pate mit blauem Kapuzenpulli vor, „ihren Selbstwert aufbauen, loben, wo man sie auch loben kann, aber nicht lobhudeln.“ „Sie können Sanktionen und klare Regeln einführen, wenn die Kids zum Beispiel immer zu spät kommen, aber bitte keinen Beziehungsabbruch. Und wenn es wirklich unbedingt Beziehungsabbruch sein muss, dann bitte nicht ohne Abschied. Denn sie haben alle genug Trennungen ohne Abschied erlebt. Absoluten Abbruch. Tote. Die, die sie für immer verloren haben, durften sie nicht betrauern.“ Man könne Rituale erfinden, Trauerstätten. Die Therapeutin legt besonders Wert auf Zukunftsperspektiven: „Hirnaktivitäten verändern sich, wenn Lebensgefahr ausgelöst wurde. Sie reagieren generalisierter auf Schrecken und Schreckmomente, geraten schneller in Angstzustände und beruhigen sich langsamer. Hoffnung in der Zukunft ist da wichtig.“
Zweite Heimat
Traumatisierte sind immer noch dabei, zu verstehen, zu kapieren, was damals passiert ist, sie sind ständig an der Verarbeitung dran, bewusst oder unbewusst und das ist ihnen wichtiger als Englisch-Vokabel.“ Lernen funktioniere unter diesen Bedingungen nur, wenn alle Sinne eingespannt werden und man auf die Zukunftsperspektive schaue. Bei Aggression bzw. Selbst- ggression (über Krankheiten z. B.) solle man bedenken, dass die jungen Flüchtlinge von Menschen geschlagen wurden, aber nicht zurück schlagen konnten. Schmerzen müsse man immer ernst nehmen, die wären immer real, auch wenn sie medizinisch nicht nachzuweisen wären und man die nur über menschliche Beziehungen heilen kann. „Bei sehr vielen ist es das Herz…, und später: Ein Stein fällt ihnen vom Herzen.“ Auf der Warteliste von „Hemayat“ stehen derzeit 200 Wartende drauf. Nicht nur deswegen ist es notwendig, dass sich Wissen über Traumata möglichst rasch und viel in der Bevölkerung verbreitet. „Ihre erste Heimat haben die Jugendlichen verloren, aber sie könnten eine zweite Heimat in Österreich haben“, schlägt die Therapeutin lächelnd vor. Die PatInnen bedanken sich alle nachher auffällig schüchtern und lieb für den Vortrag und die Einführung.
Ersterscheinung auf der Homepage von „connecting people“