Partisanenkinder: Der lange Schatten des Schmerzes
Wie ein Kind ein erwachsenes Leben lang in sich trägt, was die Nazis ihm angetan haben. Zdravko Haderlap erzählt: Wie ein Kind, das ab elf Jahren im Partisanen-Widerstand war und von Nazis zwecks Informations-Beschaffung auf den Nussbaum gehängt wurde, dieses lebensbedrohliche Ereignis später bildgleich wiederholt und wie anstrengend sich diese Reinszenierungen auf die Nachkommen auswirken.
Wie würdest du einem Wiener erklären, wie das möglich ist – warum die Partisanen nach dem Zweiten Weltkrieg so schlecht behandelt wurden? Warum musste ihr Widerstand so stark verdrängt werden?
Man muss sich das einmal vorstellen: Man war am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Siegerseite und kurze Zeit später war man wieder wie im Krieg und hat seitens der Politik wieder den gleichen Sprachjargon verwendet – bei alledem sind einem aber dieselben Bilder aufgekommen, die man erlebt hat. Politik funktioniert leider so, dass man sich auf Kosten des Anderen an der Macht hält. In Kärnten ist die Politik auch auf Kosten der slowenischen Volksgruppe gemacht worden. Das ist das Spiel der Politik, politischer Mißbrauch. So wie meine Schwester Maja Haderlap selbst gesagt hat: Österreich hat in den letzten Jahrzehnten verabsäumt, offiziell zu sagen, dass die Volksgruppen, vor allem die Kärntner Slowenen, mit dem organisierten bewaffneten Widerstand als Einzige im Deutschen Reich, maßgeblich zur Entstehung der Zweiten Republik beigetragen haben. Man erwartete sich, dass dieser Widerstand irgendwie verstanden wird, aber er ist dann nur so lange aufgenommen worden, bis der Staatsvertrag unterzeichnet wurde. Ich denke, Republik und Demokratie funktionieren nur, wenn man die Minderheiten mit einbezieht, die ja auch alle an diesem österreichischen Projekt mitgearbeitet haben.
In dem Buch „Engel des Vergessens/Angel pozabe“ habt ihr Kinder viel Streß, weil der Vater immer wieder droht, sich zu erhängen. In der Traumatherapie nennt man das „Re-Enactment“. Es ist eine Form der Bearbeitung, dass du die lebensbedrohlichen Übergriffe selber noch einmal theatralisch aufführst. Wie bewusst war für deinen Vater, dass er das selber wieder inszeniert?
Ich vermute, er hat es gemacht, ohne zu wissen, warum!
Aber das gibt es ja nicht, das ist ja bildgleich. Die Nazis hängen ihn am Nussbaum und er verschwindet mit dem Strick immer wieder auf die Heutenne oder ins Bienenhaus.
Dem Vater hat niemand gesagt, warum er das macht, sonst hätte er das vielleicht geändert. Aber die Leute haben in diesem Wahnsinn und Wahnwitz einfach gelebt – das war scheinbar in sich ein Teil des Krieges. Die ganzen Traumata, die mitgekommen sind, hat man einfach in sich getragen, und ob man nun über Most redet oder über den Nussbaum, auf dem er als Kind gefoltert wurde, die Emotionalitätsebene war gleich. Man ist von der Träne, die einem herunter rinnt, im nächsten Satz wieder zu einer Freude gekommen, es war ein Fluss, ein Redefluss und im Redefluss war das Geschehen ständig präsent.
Ich kenne einige Punks, die ihr Trauma wie Theater reinszenieren, Performance machen…
Als Reinszenierung? Das ist ein Krieg. Bei meinem Vater waren es ähnliche Bilder. Die hängen ihn auf, also hängt er sich selber auf. Ich habe ein Bild konstruiert, wie man das als Wiederholung künstlerisch umsetzen könnte. Tänzerisch auf der Bühne würde ich das so darstellen, dass er sich immer wieder selber umbringen will mit diesen Mordwerkzeugen, die er umgehängt trägt oder in die Luft schießt. Das hat er im realen Leben auch gemacht. Wie er sich sozusagen nach dem Abtreten, nach dem Selbstmord sehnt, aber bevor es dazu kommt, treten seine Freunde auf und tauschen die Harmonika gegen das Mordwerkzeug aus. „Da hast die Harmonika und spiel’ lieber was für uns…“ Der Vater spielt die Harmonika, und die Freunde, die ihm das Mordwerkzeug aus der Hand genommen haben, hängen sich selbst auf oder erschießen sich. Man entreißt dem Vater dauernd den Tod von den Füssen. Und er spielt sich in den Wahsinn, der über den Rhythmus und die immer weiter aufgerissenen Augen zum Ausdruck kommt. Verstehst du? Und das ist die Situation, die mein Vater x-mal überlebt hat und die ich großteils miterlebt habe.
Aber von der Bearbeitung her braucht er die Re-Inszenierung. Die Intention ist ja die, dass die Erinnerung an das Ereignis schwächer wird, wenn er das hundert Mal gemacht hat.
Die erste Phase war diese Selbstmordphase. Einmal hat er sein Schrotgewehr durchgeladen und ich habe beide Finger in die Öffnung gesteckt. „Jetzt drück’ einmal ab“, sagte ich. Er wollte auf die Mutter schießen – in der Phase war ich so von sieben Jahren aufwärts bis zehn Jahre alt… Dieses Phänomen hat sich dann abgeschwächt und ging in die Opferphase über. Er sah sich für alles, was um ihn herum passiert, immer als Opfer. Das war eine unglaubliche aggressive, beleidigte Trotz-Phase. Wie entmachtet, wie entmündigt.
Nach der Traumatherapie bleibt ein Teil der Persönlichkeit auf der kindlichen oder jugendlichen Ebene stecken, eben genau in der Altersstufe, in der das passiert ist.
Dann kam es zu Konflikten zwischen den Generationen. Ich war alt genug, 16 Jahre ungefähr, als ich das nicht mehr über mich habe ergehen lassen wollen. Er ist mit mir in Konflikt getreten, und dann sagte ich, jetzt ist aber Schluss mit dem Terror. Er traf mich mit einem geworfenen Brennscheiter im Gesicht, und ich habe ihn daraufhin über den Hain herunter geworfen. Das hat er mir nie verziehen.
Aber er muss doch einen Zusammenhang damit gesehen haben, wie er gefoltert wurde.
Ich bin überzeugt davon, das war der Kern seines Traumas. Für die zweite Phase war der Knackpunkt vermutlich der Atemzug, wie er mit vierzehn Jahren vor Gericht vor seinem Peiniger stand und wie der Vater den Täter dort verleugnet hat. Als der Richter ihn gefragt hat, war es der, der dich aufgehängt hat? Orsolic hat er geheißen, der Polizeikommandant, der hat sich selber die Mütze aufgesetzt, wie der Vater ihn in Erinnerung gehabt hat, bei der Folterung – er hat ihn aber verschwiegen und verleugnet und sagte: „Ich kenne diesen Mann nicht“. Bei der Erzählung hat der Vater immer geweint.
Aber warum hat er das gesagt?!
Das war vielleicht wirklich sein Knackpunkt. Warum der Vater sagte, ich kenne diesen Mann nicht, weiß ich nicht. Warum sagt man denn das? Da muss man einen Psychologen fragen.
Das kann unterschiedliche Gründe haben. Mit elf Jahren haben sie ihm so viel angetan. Und es hat ihm keiner geholfen, denn diese Folgen hat er ja nur, wenn ihm keiner geholfen hat.
Der Vater war ja immer überdreht. Er hat gelitten und Leid erfahren, aber im Grunde hat er nach dem Krieg die Rolle eines Dorfnarren gespielt. Er war immer ein Kind. Man hat das Gefühl gehabt, dass der Vater immer in einem Kind drin steckt.
Hat er später gewusst, was er machte? Hat er sich erinnert?
Er hat sich nicht erinnert, zumindest hat er es nie gezeigt. Ich habe nur eines erlebt, im Zusammenhang mit Traumatisierten aus dieser Region: Es gab einmal von der Hilfsorganisation ASPIS und dem Psychotherapeuten Klaus Ottomeyer aus an der Klagenfurter Universität eine Infoveranstaltung, zu der kamen viele Bekannte von mir, alle sechzig Jahre aufwärts, an die 64 Leute und das war für mich maßgeblich prägend: Was ihnen diese Informationen für Gewaltüberlebende für Möglichkeiten bieten, hast du daran gesehen, wie allen diesen Leuten durch die Bank die Augen ganz groß geworden sind, ganz kindlich, so! (macht es vor), als würde man vor einem Christbaum sitzen. Der Mund ist ihnen herunter gefallen und ich hatte den Eindruck, dass den Leuten das erste Mal zugehört wird. Dass jemand ihr erfahrenes Leiden versteht. Und das liegt erst drei Jahre zurück.
Die müssen das doch auch alle als Generationenfrage gesehen haben, oder? Dass alle aus dem Partisanen-Gebiet Lepena betroffen sind.
Für uns war das nicht so. Nein. Für uns als Kinder und für alle aus der Gegend war das normal. Der Normalzustand – so ist das Leben. So spielt sich das Leben ab. Man hat hier sehr lange gebraucht, um zu erfahren, dass es etwas anderes auch gibt. Letztendlich war dieser Wahnwitz der Normalzustand. Wir haben nach einer Sprache gesucht. Das war der Grund dafür aus dieser Sprachlosigkeit, obwohl man in zwei Sprachen aufgewachsen ist, einfach auszubrechen und sich eine Sprache anzueignen, in der man sich artikuliert, in der Hoffnung, das man verstanden wird. Aus dieser Intention heraus entstand das Tanztheater/plesni teater Ikarus.
Ersterscheinung im Augustin 332, 14. 11. – 27. 11. 2012