Refugee Struggle Congress: „Gebt die Angst den Besitzern zurück“
Flüchtlings-Konferenz in München auf der Suche nach Theorie : Auf der gut besuchten Flüchtlings-Konferenz in München bemühten sich Flüchtlinge eine eigene Theorie dazu zu entwickeln, warum die europäischen „Aufnahmegesellschaften“ eine derartig gefährliche Flüchtlings-Abwehr praktizieren. Ausflüge ins „Haus der Kunst“ bzw. ins Jüdische Museum zeigten anregende Widerstandsformen aus anderen Kontexten.
„Wir leben außerhalb der Gesellschaft, und der Name dieser Stelle, die sich zwar auf dem Territorium eines Landes befindet, aber kein Teil der Gesellschaft ist, nennt sich Flüchtlingscamp“, sagt der iranische Flüchtling mit den grauen Haaren und dem jungen Gesicht. „Dieses System basiert darauf, dass einige Menschen etwas haben und andere nichts.“ Er zeichnet zwei Kreise auf den Flipchart, die sich zum Teil überschneiden. Der eine Kreis steht für das Herkunftsland, der andere für das Aufnahmeland. Der schraffierte Teil in der Mitte, in dem sich beide Kreise überschneiden, soll zeigen, dass die Flüchtlingscamps beide Länder gleichzeitig repräsentieren. Die kleine Fläche sei Treffpunkt zweier Länder und gleichzeitig exterritoriales Gebiet außerhalb der Gesellschaft. „Wir müssen den Kreislauf der Unterdrückung der Flüchtlinge verlassen.“ Um die 150 Flüchtlinge und UnterstützerInnen schauen ihm beim Zeichnen zu. „Wir wollen alle Flüchtlingscamps und Heime auflösen und ein Modell mit Wohnungen mitten in der Gesellschaft entwickeln“, sagt er später in der Essens-Schlange auf der Treppe.
Tote am Eingang zum Privileg
Für den „Refugee Struggle Congress“ Anfang März in München vernachlässigten viele Flüchtlinge die in Deutschland gesetzliche „Residenzpflicht“ (die ihnen verbietet, den Landkreis zu verlassen, in dem sie gemeldet sind) und kamen ins flache Gewerkschaftshaus in der Nähe des Müncher Hauptbahnhofes. Nun sitzen sie – außer auf dem eigenen „Non-Residents Plenum“, auf dem sie das Wort ergreifen – still und stumm im hinteren Teil des Saales mit dem grauen Teppichboden. Es wird in fünf Sprachen übersetzt. Drei Tage lang, von zehn Uhr morgens bis zehn am Abend, entwickeln vorne, in einer Art coolem Frontalunterricht, die immer gleichen fünf männlichen Flüchtlinge, die zum Großteil aus dem Iran stammen, ihre Gedanken und ihren Blick auf die Ereignisse. Fragen darf man nur auf einen Zettel schreiben und in eine Box schmeißen. „Es fehlt an Theorie, wir müssen einen politischen Diskurs entwickeln, dafür ist diese Flüchtlingskonferenz da“, sagt der Iraner. Er steht vor seinem Flipchart und deutet mit dem Stift: „Wir werden hinter der Eingangstüre zu dieser Gesellschaft aufgehalten und im Verborgenen versteckt. Wir werden blockiert und lahm gelegt hinter dieser Türe. Je näher wir an den Eingang in die privilegierten Länder herankommen, desto mehr Tote gibt es – Privatarmeen und Frontex rücken gegen uns an. Während wir alle diese Gefahren passieren, um hierher zu kommen und akzeptiert zu werden, müssen wir Flüchtlinge anscheinend in einer Ordnung des Kampfes und der Destruktion vernichtet („crushed“) werden, um herein zu dürfen.“ Hungerstreik, Selbstverletzungen und Schubhaft wären der gesellschaftlich unhinterfragte, hohe und destruktive Preis für die oft nur zeitlich beschränkte Aufnahme.
Auf dem Gang zum Saal hängen Fotos der starken deutschen Flüchtlings-Bewegung an der Wand. Sie begann, als sich einer der „Denker“ das Leben nahm. Mohammad Rahsepar erhängte sich im Januar 2012 in seinem Zimmer im Würzburger Flüchtlingsheim und starb. „Seine Landsleute sind entsetzt und wütend“, steht unter einem Foto, darauf sieht man ein Transparent mit dem Text: „Er war auf der Suche nach der Freiheit. Das ist das Ergebnis“. Unter einem anderen Foto, auf dem das Flüchtlingsheim Würzburg zu sehen ist, steht: „An der Pforte des Flüchtlingslagers in Würzburg prangt die Aufschrift ‚Zentrale Rückführungsstelle’“. Auf einem dritten Foto ist ein trauriger Flüchtling mit seinem Transparent zu sehen: „All I want to say is that they don’t really care about us.“ Der Bildtext dazu: „Der Großteil der Flüchtlinge hat aber Angst für seine Rechte auf die Straße zu gehen. Sie fürchten Repressalien und das ist nicht unrealistisch.“
VertreterInnen der Dritten Welt
Auf der Pressekonferenz am Sonntag kommt dann noch einmal die Frage: „Warum muss man die Flüchtlinge so fernhalten?“ „Wir denken, dass diese Abwehr verknüpft ist, mit den Strukturen, die Unterdrückung und Ausbeutung bedeuten. Aus dem Kreislauf von Produktion und Reproduktion fallen wir Flüchtlinge heraus. Um Eintritt in die Gesellschaft zu gewinnen, müssen wir erst einmal ein ‚Flüchtlingsschicksal’ durchlaufen. Die Flüchtlinge sollen zermürbt werden, auch wenn sie schon einiges an Grenzerfahrungen und Katastrophen erlebt haben“, antwortet der Iraner mit den grauen Haaren. Ein junger Flüchtling mit langen Haaren unter der Kapuze meint: „Das, was wir hier erleben, ist die Reproduktion dessen, was die Erste Welt in der Dritten Welt macht. Wir sind hier quasi die Abkömmlinge und Vertreter der anderen Welt, die ausgebeutet wird.“ Die deutsche Flüchtlingsbewegung ist so stark, weil Flüchtlinge andere Flüchtlinge in den Lagern und Heimen besuchten und sie die Menschen aus ihrer Isolation heraus holten. Und sie sich in ihren vielfältigen Widerstandsformen nicht von Repressalien Angst machen lassen. Während die Männer immer wieder „von der Wut“ der Flüchtlinge redeten, über ihre Missachtung und ihre Situation, rief die einzige weibliche Sprecherin zum Durchhalten auf: „Ich bin Napoli aus Hannover. Ich fahre mit dem Flüchtlingsbus zu den Lagern. Holt die Angst raus, take out the fear, women! Wir können uns selbst nähren, wir Flüchtlinge müssen aus den Heimen heraus kommen und zusammen stehen. Wir tragen nun selbst die Verantwortung!“ Mir, einer der Flüchtlinge aus der Wiener Votivkirche, wurde über Skype in Direktschaltung auf die Leinwand übertragen und meinte immer wieder, „wir sind nur arme Flüchtlinge, die sich nicht helfen können“, was bei den deutschen AktivistInnen nicht gut ankam. Napoli antwortete ihm, dass jetzt nicht die Zeit wäre, um zu schlafen: „Wir sind da, wir werden kämpfen. Entweder sterbe ich oder ich nehme meine Rechte (Applaus). Take the fear from your heart and give it back to the owners. The freedom of movement is everybody’s right.” Inzwischen wurde der Flüchtlings-Informations-Bus von der Polizei angegriffen und mehrere AktivistInnen befinden sich im Krankenhaus, doch auch das wird die Flüchtlinge auf ihrem langen, ausdauernden und erfolgreichen Kampf auf der Straße nicht stoppen.
Kleiner Exkurs: „Wir leben noch“
Dass aber allein ökonomische Ausbeutungs-Kriterien als Erklärung für Abwehr und miese Behandlung von Flüchtlingen nicht ausreichen, zeigt das Buch von Beno Salamander sehr schön, dass man im Jüdischen Museum in München kaufen kann. „Kinderjahre im Displaced-Persons-Lager Föhrenwald“ (Bayrische Landeszentrale für politische Bildung, 2011) berichtet von den Lagern, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, um Überlebende der Shoah, die „Sche’erit hapleta“, den „Rest der Geretteten“ aus Osteuropa aufzunehmen. Diese Camps kämpften ähnlich heutigen Flüchtlingslagern stark mit Isolation, Armut und gesellschaftlichem Ausschluß und lagen oft irgendwo im Wald versteckt. Das Lager in Föhrenwald wurde erst 1957 aufgelöst. Im wunderschönen neuen Jüdischen Museum mit Stein-Synagoge und Fußgängerzone, vor dem in der Sonne die Kinder fröhlich herumturnen, ist die Rede von den 200.000 „Kontingentflüchtlingen“, die Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufnahm. Das Wort Kontingentflüchtlinge kommt aus den Zahlen-Kontigenten an Menschen, die auf kleine Gemeinden aufgeteilt wurden, denn alle wollten in den Städten leben, das durften sie aber nicht. „Aha, wir leben noch!“, ruft der lebhafte Kunstvermittler und streckt lachend die Arme in die Höhe. „Die Geschichte der Münchner Juden ist eine Geschichte der Zuwanderung und des Ankommens“, führt er die erste Station der Daueraustellung, die einen Bahnhof oder Flughafen imitiert, vor. „Nur wenige wollten nach der Shoah nach Deutschland zurückkehren.“
Im beigebraunen, marmornen „Haus der Kunst“ am Englischen Garten, in dem auf der Terasse noch Hakenkreuze zu sehen sind, denn das Haus hat eine NS-Vergangenheit, kuratierte Direktor Okwui Enwezor persönlich eine Schau: „Aufstieg und Fall der Apartheid: Fotografie und Bürokratie des täglichen Lebens“. Hier sind in Tausenden von Schwarzweiß-Fotos Unterdrückung, Widerstandsformen und Folgen von Apartheid im Alltag dokumentiert. Ein schwarzer Mann, der still mitten im öffentlichen Raum steht und ein Schild hält „My wife Emma now held 4 days in prison“, eine weiße Frau an einer Autokreuzung mit dem Schild „Stop all Hangings“ – hier können sich die heutigen unterdrückten Flüchtlinge viele Anregungen und Ideen für erfolgreichen Widerstand holen. Denn die Fotos sprechen natürlich von Repression – aber vor allem zeigen sie das pralle Leben.
Ersterscheinung im Augustin 340, 20.3. – 2. 4. 2013