Die Räume zwischen den Wörtern hassen
Venediger Kunstbiennale und „Salon der Angst“ auf der Suche nach dem Zipfel des Universums: Machen Menschen „mit besonderen geistigen Bedürfnissen“ die spannendere Kunst? Von Obsessionen, Systemen und Strukturen: In die venezianische Biennale-Wunderkammer ist sehr viel „Art Brut“ eingeflossen. Im Wiener „Salon der Angst“ dominiert „das Abbild“.
Antiheldenhafte Serien-Kunst, bildhafte Obsessionen, eifrige und fleißige Suche in Systemen und Strukturen: Die Kunst Biennale in Venedig zeigt unter dem Titel „Der Palast der Enzyklopädie“ sehr viele „Art Brut“-Kunstwerke. Was war vorher, die Wissenschaft oder die Kunst? Oder die „Abnomalien“? Oder entstand die Wissenschaft, indem forschende Wächter die „Narren“ und „Närrinnen“ zu beobachten begannen, in den runden „Narrentürmen“, den Vorläufern der Gefängnisse – wie der französische Philosoph Michel Foucault schreibt? Ist Kunst eigentlich sowieso Obsession, oder nur ihre Ausführung und Bearbeitung? Der italienische Kurator Massimiliano Gioni wollte mit seiner Enzyklopädie-Biennale „einen Zipfel des Universums erhaschen“.
Papierbrücke ins Nichts
Tragen sogenannte „geistig Kranke“ Imaginationen, „besondere“ Lebenswelten und Utopien zur Bewegung im Leben bei? „Manche leben in solch einer künstlichen Realität, dass sie die physische Realität der Menschen, die sie umgeben, nicht akzeptieren“, schreibt die Künstlerin Eva Kotatkova auf einem riesigen Tisch voller Zettel, Papierfiguren, Skulpturen aus Metalldraht und Botschaften in den Giardini. „Sie fühlen sich alleine, weil sie glauben, sie sind von Phantomen umringt, nicht existierenden Kreaturen, die ihren inneren Visionen entspringen.“ Kotatkova trug für ihre Installation „Asylum 2013“ in „archäologischen Forschungen“ die Ideen und Theorien von PatientInnen der Psychiatrie in Bohnice in dichterischer Form zusammen. Einer hasst die Räume, die leeren Stellen zwischen den Wörtern oder Buchstaben. „Manche Patienten warnen einen, vor den dünnen Ästen, die aus ihren Körpern heraus ragen“, steht auf einem anderen Zettel. Einer, der Herz Chirurgie brauchte, war sich sicher, dass er nicht in den Operationssaal passen würde. „Ich will nicht übertreiben oder angeben“, sagte er, „aber wenn ich in einer guten Verfassung bin, kann ich den ganzen Raum füllen, den linken Flügel des Hauses mit dem Nachbargarten und der Straße.“ Täglich gibt es Performances.
Bei manchen Kunstwerken ist der Übergang zwischen „Verrücktheiten“, eigenen Welten und der Kunst noch fließender: So in den übermalten Foto-Collagen der „The Shaking Quakers“, einer Gemeinschaft, die sich 1744 in „New Libanon“ in New York zusammenfand, sich nach ihren exstatischen Tänzen benannte und sehr produktiv war. In den „Shaker Gift Drawings“ zeichneten die TänzerInnen ihre Visionen. Passbilder sind auf die Zeichnungen geklebt. Die Shakers bebilderten ihre Weltinteressen, ähnlich dem inhaftierten Sammler, der im „Psychiatriehäfn“, der Justizanstalt Göllersdorf, sitzt und neulich aus dem Fernseher heraus um Materialzusendungen bat: „Ich interessiere mich für alles, was mit der Welt zusammen hängt. Danke.“ Kurator Massimiliano Gioni ist es hoch anzurechnen, dass er sich auch vor sexualisierten Obsessionen nicht fürchtete, wie dem „Leningrader Album“, in dem der sowjetische Jugendliche Evgenij Kozlov seine sexuellen Phantasien, die sich zumeist um lesbische Krankenschwestern drehen, auf Papierzeichnungen ausführt. Eine riesige Wand ist damit voll gepflastert. Der Illustrator Domenico Gnoli zeigt hingegen in einer „seltsamen Erotisierung des Alltäglichen“, alles, was er furchterregend oder entzückend fand. „Was ist ein Monster?“ (1967), fragt Gnoli und zeichnet Geister in der Badewanne oder Schnecken auf dem Sofa, ähnlich manchen Surrealisten in holzschnittartigem Schwarzweiß.
Etwas mehr Wagnis hätte der Kurator aber in Bezug auf Trauma-Bildsprache eingehen können: Denn nun ist die Holländerin Viviane Sassen, die als Kind in Afrika lebte, die Einzige, die zum Thema Kolonialismus und ethnografischer Bildsprache arbeitet. Ihre Fotos, auf denen sie „einen Geist verfolgen will, der verschwindet, sobald er angeschaut wird“, zeigen etwas zu viel Friedhöfe, Gräber und AfrikanerInnen in gestellten Posen. Sassen sucht etwas, das sie gesehen, aber nicht gefühlt hat. Auf den psychedelischen Wandteppichen von Papa Ibra Tall aus dem Senegal sind hingegen die Silhouetten, die Schatten-Menschen hinter den lila-gelben Kreisen nur zu erahnen.
Salon der Angst
In Wien ist der neue Direktor der Kunsthalle in seinem „Salon der Angst“ sozusagen nicht über die Trauma-Bildsprache eines kleinen Kindes hinausgekommen. Es gibt viele „Eins zu eins“ Bilder, ein Mensch bzw. ein Wesen, ein Betrachter, Standstills im Dunkeln, ein Mensch als Symbol. „DAS Bild“, meint Nicolaus Schafhausen im Interview. Flashback-Bilder sozusagen. „Mit Performances wäre es eine viel aggressivere Ausstellung geworden.“
Allean Sekula verfügt in seiner Kunst demnach als zweite Generation von jüdischen Geflüchteten auch nur über Bilder und eine fragmentierte Sprache, er bringt Texte anderer Menschen zu seinen Fotos von PolInnen in den USA. Er ist aber der Einzige, der im „Salon der Angst“ zum Holocaust arbeitet – drei Jahre vor seinem Tod. Die 37 Fotos sind als Installation gehängt, so wie sie der Künstler selber in Warschau zusammen stellte. Das schönste Bild ist aber die in sich verschränkte, verklemmte, verkrampfte Figur von Francis Picabia, voller Sackgassen und Labyrinthe, die aber gleichzeitig viel hellgrünen Platz und hellblaue Luft offen läßt. Und das Sekula-Foto von den Obdachlosen des Lazarus-Shelter in Warschau, die sich ein riesiges, hölzernes Schiff bauten, um den Globus zu umrunden. In der vorigen Ursus Traktoren-Fabrik gebaut.
Eva Kotatkova: Asylum 2013
Domenico Gnoli: Was ist ein Monster? (1967)
Papa Ibra Tall: La solitude de l’oiseleur (2012), Collection Abdoulaye Diop et Gnagna Sow
Francis Picabia: Bonheur de l’aveuglement (ca. 1947), © VBK Wien 2013, Galerie Haas, Zürich
Allan Sekula: Boat builders who hope to circumnavigate the globe, at Lazarus shelter for homeless men, former Ursus Tractor Factory. Warsaw, August 2009 (2007-2009), Courtesy of the artist and galerie Michel Rein, Paris
Fotos: Paul Kellermann, Kunsthalle Wien