Wie im Traum, wenn man schreien will
Peggy Parnass – schamvolles Überleben, präzise formulierte Wut: Als leidenschaftliche und streitbare Gerichtsreporterin schaute Peggy Parnass NS-Tätern mutig ins Auge. Als Kind versuchte sie ihre Eltern aus dem KZ zu retten, doch Schweden machte die Grenzen zu. Im Herbst wurde die Geschichte ihrer Kindheit als Buch publiziert. Kerstin Kellermann besuchte die Autorin für den Augustin in Hamburg.
„Die Prozesse gegen Nazis, die ich haben wollte, fanden nicht statt!“, ruft Peggy Parnass unter ihrem Lockenschopf hervor. Die ehemalige Journalistin, Kolumnistin und Buchautorin, die nach einem schweren Bruch ans Bett gefesselt ist, ist berühmt für ihre Gerichtsreportagen – vor allem für die gegen nationalsozialistische Täter in Deutschland. Dieses Bild prägte sich vielen als Hoffnung ein: Vorne im Gerichtssaal wird gegen nationalsozialistische Mörder verhandelt und erste Reihe fußfrei sitzt die Tochter von zwei bemitleidenswerten jüdischen Menschen, die im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden. Diese junge Frau beobachtet ganz genau, was für „Herrenmenschen“ das sind, die so Schreckliches vollbringen konnten. Analysiert sie mit scharfem Verstand und emotionalem Zugang und fasst ihre Überlegungen in Worte. In Wahrheit waren es bloß drei Prozesse gegen Nazi-Täter, die Peggy Parnass begleiten konnte – ein Großteil jener, die für den Massenmord verantwortlich waren, wurden von juristischer Verfolgung verschont. Alles andere waren „normale“ Gerichtsprozesse. Die tiefen Emotionen, die Aufregung, das zutiefst Menschliche, das Existenzielle in Opfern, ZeugInnen und TäterInnen zog sie magnetisch an. Siebzehn Jahre lang. „Es ging ja immer um Menschen“, sagt Parnass heute, „ich war jeden Tag um halb acht im Gericht, weil ich alles mitkriegen wollte. Um acht Uhr ging es los im Schwurgericht. Ich arbeitete im Schnitt sechzehn Stunden am Tag. Extreme Gefühle faszinieren mich“. Im Buch „Unter die Haut“ beschrieb sie es so: „Wenn man über andere schreibt, kann man sich auch ziemlich gut hinter deren Schicksal verstecken. Egal, wie beteiligt man ist.“ Sie auf jeden Fall wolle „nicht in der Distanz erfrieren“.
Keine Nazi-Prozesse
Früher hatte sie als Allererstes ein paar kleine Filmkritiken geschrieben – übermütig, frech und sehr kritisch, dann fiel ihr auf, dass es an guter Berichterstattung über NS-Gerichtsprozesse fehle und sie bat alle möglichen JournalistInnen, u. a. auch Ulrike Meinhof vom „Konkret“, doch bitte schön Gerichtsreportagen anzugehen. Was diese aber nicht machten – und so griff sie schlussendlich selbst zur Feder, „tauchte in Menschen ein“, wie sie meint. Zu dem Zeitpunkt dachte Parnass etwas naiv: „Ich schreibe ein- oder zweimal sehr deutlich und dann haben es alle begriffen. Danach arbeite ich weiter als Schauspielerin. Ich war schließlich in über 500 Prozessen und nur drei hatten Nazis als Angeklagte. Es gab nicht die Prozesse, über die ich schreiben wollte.“ Bei dem Juristen Ludwig Hahn, der von den Polen als der eigentliche Mörder von Warschau gesehen wird, wird ihr „schwarz vor den Augen und speiübel. Mal vor Trauer. Mal vor Wut.“ Ein Landesgerichtsdirektor sandte Hahn ein Paket mit Untersuchungsakten. Ein eifriger und fleißiger Oberstaatsanwalt, Antifaschist, wurde abgesägt. An seiner Stelle ein junger Ankläger zum Leiter des NS-Dezernates in Hamburg befördert. „Dass seit 1966 von den 2000 Beschuldigten, gegen die wegen Mordes in der NS-Zeit ermittelt wird, erst 21 vor Gericht gestellt und nur acht bestraft wurden, wird auch seine Gründe haben“, schreibt Parnass. „Mich weist man immer, wenn ich vor Wut zu platzen drohe, auf die demokratischen Spielregeln hin.“ Manchmal muss man aber auch lachen bei ihrer Schreibe: „Hahn straft mich mit Blicken.“ Aber wie mutig, dort zu sein! In ihrer Kolumne „Von Richtern und anderen Sympatisanten“ schrieb Parnass über Nazi-Richter, die andere Nazis deckten. Kleinsttäter erhielten lange Strafen, Massenmörder Haftverschonung. „Ich war denen bei Gericht schon ein Begriff, sie versuchten oft mich rauszuwerfen“, schmunzelt sie. „Man wollte mich öfter vor Gericht zerren, aber was ich geschrieben habe, stimmte immer“.
Trotz und Kampfgeist
„Ich rede mit niemandem über meine Kindheit. Warum sollte ich ausgerechnet mit Ihnen über meine Kindheit reden?“, fragt Peggy Parnass, kommt aber immer wieder von selbst auf das Thema zurück. Nicht einmal mit der Holzschnitt-Künstlerin Tita Do Rega Silva, die gerade Peggys Kindheitsgeschichte in ein sofort vergriffenes Buch* faßte (die Neuauflage ist schon erschienen) und die Bilder gestaltete, sprach sie darüber. Einen Beitrag für eine Anthologie zum Thema „Kindheit“ zu erstellen, kostete Peggy drei schreckliche Monate. Beim Schreiben fiel ihr auf, „dass ich nie ein Kind war. Also bleibt mir nur zu überlegen, bis wann man offiziell ein Kind ist. Solange die Mutter lebt?“ Jeder Satz zeigt das Mädchen, das sie irgendwie auch noch ist – das mit Trotz und Kampfgeist überlebte und dreimal erfolgreich ihren Bruder „Bübchen“ aus dem Kinderheim entführte. „Komisch – einerseits nie Kind, andererseits nie erwachsen“, schreibt sie. Die geliebte Mutter setzte die Kinder gerade noch rechtzeitig in den Zug nach Schweden. Selbst ging sie zurück zu ihrem Mann ins Todeslager, obwohl sie noch einmal herausgedurft hatte. Dieses Verhalten erklärt sich Peggy mit der riesigen Liebe ihrer Mutter Hertha Emanuel. Die den polnischen Juden („Oder jüdischen Polen“, sagt Peggy bei der Autorisierung am Telefon dazu) Simon Pudl Parnass heiß begehrte. Einen Pokerspieler, der manche Nächte nicht nach Hause fand. „Noch bevor er als Jude hier unerwünscht war, war er als Spieler zum unerwünschten Ausländer gestempelt.“ Hertha wollte unbedingt bei Pudl Parnass sein. Peggy: „Fast dreißig Jahre älter als Mutti. Ein Junge mit immer neuen Albereien im Kopf.“ Im Buch beschreibt sie den Tod ihrer Mutter, die sogar „gegen ihren Willen noch mal freikam“, so: „Und mit ihm ist sie dann ja auch gestorben. Sie war gar nicht richtig mit verhaftet, weil sie nicht angemeldet war. Sie hat richtig darauf gepocht, mitzudürfen.“
Scham, Wut und Übergriffe
Über Peggys Bett hängt ein Foto, auf dem sie ihrer Mutter auf dem Schoß sitzt, sie fest umarmt und mit den Armen festhält. „Spielen ist die Sucht von uns Juden“, kommentiert Peggy, „mein Bruder war auch spielsüchtig. Aber im Kibbutz in Israel durfte er nicht spielen. Dadurch hörte es auf. Bübchen weiß nicht einmal mehr, wie unsere Eltern aussahen. Der war ja erst vier, als wir weg mussten.“ Sie hält die Erinnerung hoch. Ihr Vater war wegen Tapferkeit im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden und konnte nicht verstehen, dass ihm das Holzkistchen mit den ganzen Tapferkeitsmedaillen bei der Gestapo nichts nutzte. „Mutti und Pudl haben weder Grab noch Grabstein. Nur Stolpersteine vor ihrer Wohnung in der Hamburger Methfesselstraße 13“, ist im Nachwort des neuen Kindheit-Buchs vermerkt. An Schreibweise und Reaktionen des Mädchens im Kindheits-Kapitel merkt man, wie klein das Kind war, das beide Eltern und hundert weitere Verwandte verlor und von einer mordenden und jüdische Kinder verfolgenden Gesellschaft in eine ungewisse Zukunft geschickt wurde. Die kleine Peggy drang sogar bis zum Adjutanten des schwedischen König vor und bat ihn, ihre Eltern ins Land zu lassen. Es hätte beinahe geklappt. Doch dann wurden die Grenzen endgültig geschlossen! „Im Recht war ich auch, als ich, klein wie ich war, den Schweden erzählte, was mit Juden in Deutschland passiert. Nur das wollte mir keiner glauben. Wie in einem Traum, in dem man schreien will und keinen Ton rausbringt.“ Andererseits schämte sich das Kind „weil ich ihr nicht helfen konnte. Ich schäme mich auch, dass sie tot ist“. In Schweden hasste sie die insgesamt zwölf Pflegefamilien: „Weil sie nicht Mutti waren. Und so taten, als könnten sie ihren Platz einnehmen.“ Es kamen aber auch sadistische, missbrauchsähnliche Übergriffe vor. Warum Schreiben so wichtig für sie war, wo es sie doch „auszehrt“, sie „verbrennt“? Mit dem Schreiben über andere könne sie „in Menschen verschwinden“, erklärt Peggy Parnass. „Ich glaube, wenn mein Name ausradiert würde, würde ich ihn selber nicht mehr kennen. Ich muss ihn dauernd lesen, um überhaupt zu wissen, dass ich existiere.“
*Peggy Panass und Tita Do Rega Silva: „Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete“. Fischer Verlag
Ersterscheinung im Augustin 12. 11. – 25. 11. 2014