Alle Kinder malen gleich. Auf der ganzen Welt.
Strahlenfiguren, Kammfiguren, Kreise mit Kernen. Warum man kleine Kinder beim Malen ihrer Ringel und Punkte nicht stören sollte.
Er malte mit Kindern im Dschungel und in der Wüste, in Neuguinea und Guatemala, in Mauretanien oder Äthiopien – alles, um seine Bild-Schöpfungs-These zu beweisen. Seine großmütige, großherzige These in einer Welt, in der viel Dünkel vorherrscht, beinhaltete, das alle Kinder auf der ganzen Welt gleich sind und mit ihren ersten Zeichenversuchen sehr ähnliche Figuren abbilden, denen jedes Mal eine komplett ähnliche Entwicklung folgt, falls keiner stört.
Beginnend mit Kreisen und Kringeln wird die allererste Spur auf das Papier gelegt. Nach Arno Stern eine Erinnerung an den embryonalen Zustand, an Bauch und Geburt. Jedes Kind ist von einer Mutter geboren, musste durch den Geburtskanal an das Licht der Welt. Man soll und darf diese ersten Bilder nicht interpretieren, meinte der eigenwillige Stern, nicht sagen, aha, eine Sonne, ein Mond, sehr schön. Oder: Was ist das? Was soll das sein? Man soll das Kind einfach machen lassen, ohne Beeinflussung, denn sonst erzeuge man ein braves Kind, das gehorsam um Aufmerksamkeit heische, und zerstöre die orginale Bildspur des Kindes.
Der Deportation entgangen
Als Arno Stern zwanzig Jahre alt war, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, nahm er eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen an. Das war in Frankreich und es gab nur aufgefundene Bleistifte, Abfallpapier, wenig Material. „Verfolgte sind keine Feinschmecker mehr, ihr dringendster Wunsch ist es, nicht zu verhungern. Der Krieg war vorüber und wer ihn überlebt hatte, war bestrebt, sich in der neuen Lage zurechtzufinden. Alle hier im Kinderheim waren auf wundersame Weise der Deportation entgangen“, schreibt Stern in seinem Buch „Das Spiel und die Spur“ (Zabert Sandmann 2014), das voll von Bildern und Fotos ist. „Die Mehrzahl der Kinder wie auch die als Betreuer angestellten jungen Leute waren in Klöstern oder bei Bauern versteckt gewesen und erfuhren erst jetzt, dass ihre Eltern vergast worden waren.“ Stern schaffte Tempera in großen Glastöpfen an und richtete in einem ehemaligen Stall einen Malraum ein, „denn nur in der Geborgenheit eines Schutzwalls kommt das Eigenerlebte uneingeschränkt zum Ausfließen“. Im Krieg war Stern als „Zivilflüchtling“ in einem Schweizer Arbeitslager interniert. Er benannte die Malweisen der Kinder, die immer gleich schienen, mit lustigen Namen wie „Formulation“, die in der organischen Erinnerung wurzelt, oder „Trazat“, den „Gebilden aus dem verborgenen Untergrund“. Zu dieser Zeit war Abzeichnen noch ein schulisches Dogma, die Kinder sollten möglichst realistisch nach Perspektiven und Proportionen malen. Sehr lustig Sterns Benennungen mit „Giruli“ für die heftigen Kreise, die allen Eltern bekannt vorkommen, oder die Massen an Punkten, denn später Striche folgen, die „Punktili“. Stern scheint auch frisurmäßig von der Hippie-Zeit beeinflusst gewesen zu sein.
Wüstenschiffe und Schutzfiguren
Im Buch gibt es nun quasi eine „Bildbeweis-Bilderfolge“, auf der man unterschiedliche Kinder aus der ganzen Welt sehen kann, wie sie konzentriert ihre Werke erstellen. Folgend einer inneren Reihenfolge in den Motiven, einer Entwicklung. So können die ersten Männchen aus drei verschiedenen Varianten heraus entstehen: aus der Tropfenform, aus einem Dreieck heraus, dem Beine angehängt werden, oder aus dem Kopf, dem sofort die Füsse folgen. Wiederholung ist sehr wichtig für die Weiterentwicklung der Erstfiguren. Waagrechte Striche werden mit senkrechten verbunden, die Grätenfigur entsteht.
Ich hätte das alles ja auch nicht geglaubt, und als esoterisch abgetan, wenn ich mich nicht neulich mit Lob und Bemerkungen zurückgehalten hätte, als ich bei einem Kind auf einem Bild die typische Grätenfigur entdeckte. Im Innern einer anderen Figur. „Ich male Mensch und Tier als Skelett“, erklärte mir das Kind, sichtlich stolz, „die beschützen mich“. Nach Stern folgen dann die Leiterfigur, die runde Figur mit angesetztem Strich, einem Kern und schließlich als Behälter kleiner runder Figürchen. Die Einrollung, die Spirale und das Haus, das bei allen Kindern seltsamerweise sehr ähnlich ausschaut, egal wo sie wohnen. Nur die Schiffe sahen bei einem einem Nomadenjungen aus Afghanistan, anders aus, nämlich als Reiter auf Kamelen, aber exakt in der gleichen Dreiecks-Form abgebildet: Wüstenschiffe.
„Dass trotz aller Verschiedenheiten die Formulation allen Menschen gemein ist, dass jenseits aller Unterschiede ein Universal-Code besteht, ist eine wesentliche Erkenntnis, die jeden erfreuen sollte.“
Epilog
Als wir im Backstein-Flüchtlingsheim hinter der Wiener Spittelau stundenlang mit den Kindern malen, gibt es zwei Mädchen, die ihre Trauma-Schäden ausdrücken. Die eine wäscht ständig alles ab und wir müssen die Kleine zurückhalten, die Bilder der anderen Kinder abzuwaschen. Eine Größere stört ständig, ist aggressiv und unruhig, bis sich ein Junge zu ihr setzt und ihr zeigt, wie er sorgsam und genau Sponge Bob zeichnet. In aller Ruhe und Konzentration. Staunend sitzt sie daneben. Am Ende zieht sie höchst zufrieden mit dem Stappel ihrer Malerei ab. Wie selbstständig diese kleinen Flüchtlinge sind: Ein ganz Kleines müssen wir auf den Sessel heben, keine Mutter in Sicht – dann malt es höchst erfreut Unmengen an Sterns „Punktili“. Funktioniert also auch bei syrischen Flüchtlingskindern.