Vom Schmerz leben
Das Festival „Alarm“ thematisierte. wie schwer es ist, das Elend Geflüchteter in Worte zu fassen.
Während das Flüchtlingsrettungsschiff Sea Eye in Rostock in der Werft restauriert wird, brennen örtliche Flüchtlingsheime. Das war ein Grund für den Rostocker Musiker Johann Pätzold, selbst an Bord der Sea Eye zu gehen. Pätzold ist zur Podiumsdiskussion eingeladen. In dem Areal der Kuratorinnen Zahra Mani und Karin Schorm im kroatischen Hrelji bei Rovinj findet das internationale Festival Alarm statt. Ärzte ohne Grenzen haben seit dem Jahr 2016 über 30.000 Flüchtlingen das Leben gerettet. Dieser Tage ist ihr Flüchtlingsschiff, die Aquarius 2, dabei, die Flagge Panamas, unter der sie fährt, zu verlieren.
Die Schriftstellerin Dragica Rajcic betont die Bedeutung von Worten, ihr gefallen zum Beispiel die deutschen Worte „Anstand“ (nach Bloch) oder auch „Ratschlag“. Pätzold regt sich über „unglaubliche Worte“ auf, wie „Asyltourismus“ oder „finale Lösung der Flüchtlingsfrage“, von welcher der bayrische CSU-Politiker Manfred Weber schon gesprochen hat. Immer wenn die Rede auf die konkrete Flüchtlingsrettung kommt, ringt der junge Musiker mit der Sprache: „Wenn man auf See die Kinderleichen sieht, hat man keine Worte. Wir verlieren die Kontrolle über diese Worte. Die Worte sind das erste und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Gewalt.“ Rajcic, die selbst vor dem Jugoslawien-Krieg in die Schweiz flüchtete, fordert Anstand ein: „Flüchtlinge verlieren ihr Leben – im Namen der Sicherheit. Es ist wirklich absurd. Oh, ich habe so Angst, sagen die Leute vor dem Fernseher!“. Die deutschen Worte mitten in der englischen Diskussion wirken stark. Johann Pätzold tut sich schon wieder schwer mit dem Reden: „Europa lässt die ertrinken. Das ist nur schrecklich. Dieses Wissen zerstörte einen Teil meiner selbst.“ Er will seine Erinnerungen aber lieber in Kunst umsetzen statt „verarbeiten“ und hütet sie wie einen grausamen Schatz. „Mein Bruder besitzt Tonaufnahmen vom Boot, das Schreien“, erzählt seine Schwester später. „Ich habe die zigtausendmal gehört.“ Musikerin Zahra Mani übersetzt frei ein Gedicht von Dragica Rajcic. Es klingt nach Tränen. Dann spielen internationale Bands und EinzelmusikerInnen improvisierte Musik. Zahra Mani sieht das Festival, das Teil des EU-Programms echoes from invisible landscapes war, als Aufruf künstlerisch und aktiv Stellung zu nehmen.
Fotos: Jelena Vojinovic
Ersterscheinung im Augustin, 10.10. – 23. 10. 2018