postheadericon Jerusalem: Rinde spinning und Riot Police

Warum wird den einen nur das „bloße Leben“, das nackte Überleben zugestanden? Warum schützt ein Staat nur seine Bürger und Bürgerinnen und erklärt andere, die im gleichen Gebiet wohnen, für vogelfrei? Die Ausstellung „Bare Life“ des Jerusalemer Museums „On the Seam“ thematisierte, wie Staaten mit der Taktik der Exklusion arbeiten. 

Fünf Minuten vom Damaskus Tor mit seinen den Markt in der Altstadt besuchenden durcheinander eilenden Menschenmassen entfernt, liegt an der vierspurigen „Road Number one“, die zur amerikanischen Kolonie führt, das „Museum on the Seam“. Bewusst auf der „Nahtstelle“ zwischen den jüdischen und arabischen Vierteln Jerusalems angesiedelt, nimmt sich dieses soziopolitische Museum für zeitgenössische Kunst der Menschenrechte an. In einer ehemaligen Militärkaserne untergebracht, ist heute aus den Bullaugen-Fenstern mit den metallenen Fensterläden eine Allee von Orangenbäumchen zu sehen. Staatliche Versuche, das bloße Leben an sich zu kontrollieren, sind das Thema der hier ausgestellten Interventionen von 42 KünstlerInnen aus der ganzen Welt. Anselm Kiefer ist vertreten und auch Bruce Naumann, dessen Videoinstallation eines glatzköpfigen Mannes, der sich ständig singend zu Musik dreht („Rinde spinning“, 1992), schwer auszuhalten ist. Konzepte des Nachdenkens über das „bloße Leben“, der Gewalt über Leben und Tod und den Folgen von schnellen Entscheidungen im Windschatten von Regierungsbeschlüssen sind weltweit existenziell. Künstlerische Bearbeitung und Utopienfindung sind in diesem Bereich international dringend notwendig. Wie entscheidet ein Staat über Leben und Tod? Am 16. Februar 2008 wurde z.B. eine Frau aus Eritrea an der Grenze erschossen. Vor den Augen ihrer beiden, acht- und zehnjährigen Töchter tötete ein ägyptischer Grenzsoldat die 37jährige Mervat Mer Hatover bei dem Versuch den Grenzzaun nach Israel zu überqueren mit einem Schuss in den Kopf. Die Töchter wurden verhaftet. Am 30. Januar wurden zwei afrikanische Flüchtlinge von der Elfenbeinküste unter ähnlichen Umständen erschossen.

Müde Gefängniswärter

Friedlich, mit geschlossenen Augen nach hinten geneigt, liegen Soldaten in einem Bus. Die Sonne bescheint die entspannten Gesichter der schlafenden jungen Männer. Adi Nes befasste sich in „Untitled (the soldiers’series)“ (2003) mit den Folgen von militarisierter Maskulinität: „In Nes Augen sind die Soldaten müde Männer in einem müden Land, wie die Schafe zur Schlachtbank geführt, im Schutze ihrer Uniformen, die auf der einen Seite Strenge und Autorität symbolisieren, sie aber auf der anderen Seite als Schussziele exponieren“, steht dabei. Daneben blicken auf einem anderen Foto fünf arabische aussehende Männer in einer Reihe aufgestellt ernst in die Ferne. Die Szene wirkt so, als ob gleich ein Zeuge oder ein Opfer einen Täter identifizieren müsste. „Untitled (the prisoners’series)“ (1999) thematisiert die Auswirkungen eines geschlossenen Gebietes auf die Bewohner. „In der Minute, in der wir uns in die Rolle eines Gefängniswärters für eine andere Person versetzen, stellen wir uns selbst in ein Gefängnis mit ihr. Ich wollte über Israel als einen Ort sprechen, in dem du und dein Nachbar in einem umschlossenen Areal leben, von dem aus es keinen Weg nach draußen gibt, keine Fluchtmöglichkeit. Über sehr fixierte Grenzen, innerhalb derer viele verschiedene Kräfte operieren, wie israelische Veteranen, Immigranten, Palästinenser und ausländische Arbeiter“, erklärt der Künstler in einem Interview neben seinen Fotos. „Wenn wir kraftvoll gegen einen anderen agieren – selbst wenn es aus Trauer oder Angst ist – begeben wir uns in die schwächere Position.“

Zeit der Ernte

Plötzlich dunkelblaue Uniformen überall, junge Menschen, die kichernd und debattierend von Kunstwerk zu Kunstwerk laufen. Eine Gruppe von PolizistInnen wartet auf ihre Führung. „Heute früh waren Grenzsoldaten da. Diese Jugendlichen jetzt sind von der Immigrations-Polizei, sagt Michel, der für das Museum die Kunstausflüge koordiniert. „Nach der zweiten Intifada, als auf Demonstrationen 13 israelische Araber getötet wurden, fand eine Art Revolution innerhalb der Polizei und der Armee statt. Sie öffneten sich für Gruppen, die vorher nicht akzeptiert wurden und für Workshops von außerhalb.“ Der hochgewachsene Anthropologe kam vor einigen Jahren aus Brasilien und blieb in Jerusalem hängen. Wie steht es um das Verhältnis von Staat und „Museum on the Seam“? „Ich weiß nicht, wie das Bild des Staates Israel in Österreich aussieht… Wir sind ein sehr israelisches Museum, ein wichtiger Teil der Gesellschaft, kein externer. Israel ist ein seltsames Land, finde ich, innerhalb der Grenzen von 1948 ist es ein sehr demokratisches Land, außerhalb in den besetzten Gebieten aber nicht.“ Das Projekt „Big Brother“ („Auf hebräisch klingt das besser“, lächelt Michel) verbindet ImmigrantInnen und PolizistInnen, die oft wenig Bildung besitzen und keinerlei Verbindung zu Kunst – mit den Mitteln der Kunst. Das Video „Leaving (Odjesd)“ zeigt den Aufbau eines provisorischen Konsulats, in dem 1500 ukrainische Ausreisewillige nach Israel im Garten warten müssen. Der Künstler Clemens Wedemeyer persifliert die Rituale der Macht, die Inszenierung, mit der Menschen in die geistige Verfassung der Erwartung versetzt werden. Am Eingang der Ausstellung sind in metallenen Regalen Helme der belgischen „Riot Police“ gestapelt, die Installation „The Time of the Harvest“ des südafrikanischen Künstlers Kendell Geers (2005), füllt eine hohe Wand. Darunter liegen 16 weiße Gipsmasken von Menschenköpfen am Boden. „Multiple Kulturlandschaft“ nennt sich die Kunstarbeit von Jürgen Waxweiler (1999). „Diese Ausstellung zeigt resolut auf den Platz, an dem eine zeitweise Not-Situation in eine legitimierte, weiterführende Situation verwandelt wird, die am Ende zu einer Paranoia an Verdächtigungen und zur Benutzung von Gewalt zur Re-Etablierung der öffentlichen Ordnung führt“, steht in großer Schrift daneben.

http://www.coexistence.art.museum

Erschienen im Augustin

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