Jüdische Flüchtlinge: „Die Ausreise ist immer teurer geworden“
Fast alle Länder machten ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge dicht. Rettung per Schiff: Aufgerieben zwischen den Anordnungen Adolf Eichmanns und dessen „Wiener Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, den existenziellen Nöten der jüdischen Flüchtlinge und extremen organisatorischen und finanziellen Anforderungen ermöglichte Berthold Storfer insgesamt 9096 Menschen die Ausreise aus dem nationalsozialistischen „Deutschen Reich“. Ein Interview mit der Wissenschafterin und Autorin Gabriele Anderl, die nach langen Recherchen ein Buch darüber publiziert hat.
Wie haben Sie alle diese hundertausend spannenden Einzelheiten über Storfers Schiffe herausgekriegt?
Auf vier Donaudampfern und drei Hochseeschiffen organisierte Berthold Storfer 1939 und 1940 den größten illegalen Transport nach Palästina während der NS-Zeit. Zur Organisation dieses Transportes gibt es einen Aktenbestand, der der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde gehört, sich aber in den „Central Archives for the History of the Jewish People“ in Jerusalem befindet. Storfers Aktentasche voll mit Dokumenten wurde erst vor Kurzem von der Historikerin Evelyn Adunka in einem Wiener Depot der Kultusgemeinde entdeckt. Storfer verfasste regelmäßig Mitteilungen für die Leitung der Kultusgemeinde und für Eichmann und die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die über jeden seiner Schritte genau informiert sein wollten.
Der Druck, unter dem Storfer stand, kommt in Ihrem Buch ganz schön heraus.
Die zionistischen Organisationen, die selbst Flüchtlingstransporte organisierten, empfanden Storfer, der Jude, aber kein Zionist war, als massiven, arroganten Konkurrenten. Einzelne haben später ihre Memoiren geschrieben, was Storfer nicht tun konnte, weil er in Auschwitz erschossen wurde. Die anderen stehen heute als Helden da, während er als Kollaborateur und Verräter gebrandmarkt wurde.
Er konnte ja zu dem frühen Zeitpunkt noch nicht wissen, dass es zum industriell betriebenen Massenmord kommen wird.
Nach dem „Anschluss“ wurde schnell klar, dass es den Nazis um die systematische Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ging, kombiniert mit der vollständigen materiellen Beraubung. Es gab viele jüdische und nichtjüdische Gruppierungen und Einzelpersonen, die Konzepte für die kollektive jüdische Auswanderung entwarfen – auf nichtjüdischer Seite vor allem aufgrund von Antisemitismus und aus Geschäftsinteresse. Ob bei Storfer selbst der Rettungsgedanke im Vordergrund stand oder er vor allem etwas von seinem Einfluss oder Vermögen retten wollte, wissen wir nicht. Die Situation war paradox: Die SS hat die zionistische Auswanderung gefördert, weil sie die Juden loswerden wollte. Aber sie merkte natürlich, dass die Zionisten eigene Ziele verfolgten, einen Staat gründen und vor allem den Jungen, Gesunden und Wehrfähigen zur Auswanderung verhelfen wollten. Die SS wollte auch die Alten, Kranken und Menschen, die in Dachau und Buchenwald inhaftiert waren, in großem Stil los werden. Sie erwartete von Storfer, dass er alle diese Menschen auf die Schiffe pfercht.
Aber finanziell ist es sich gar nicht ausgegangen – Storfer musste doch Geld für den Transport auftreiben?
Die Kosten der Reise sind richtiggehend explodiert. Im Juni 1940 begann der Krieg im Mittelmeer, die Fahrten auf den ausgedienten, überfüllten Dampfern wurden noch gefährlicher. Schiffseigentümer, Kapitäne und Mannschaft wussten auch, dass die Beschlagnahme der Schiffe drohte, dass alle eingesperrt werden können, weil sie in illegale Unternehmungen involviert sind. Viele nutzten die Lage dazu, den fünf- bis zehnfachen Lohn zu verlangen.
Aber die Warterei hatte auch die Konsequenzen, dass Leute wieder zurück ins KZ mussten!
Ja, furchtbar. Der Transport verzögerte sich um ein halbes Jahr, es verschärfte sich die gesamte Situation.
Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass Storfer mit Eichmann zusammenarbeitete?
Storfer konnte nur unter der Aufsicht Eichmanns arbeiten. Eichmann war die maßgebliche Instanz in Sachen Vertreibung. Er instrumentalisierte die gesamte jüdische Gemeindeleitung. Eichmann kümmerte sich nicht um Einwanderungsmöglichkeiten oder die Beschaffung von Schiffen, das mussten die Verfolgten selbst leisten. Die Funktionäre der Kultusgemeinde und der jüdischen Organisationen sahen keine Handlungsalternative. Die jüdische Bevölkerung war entrechtet, ihrer materiellen Lebensgrundlage beraubt und innerhalb der Gesamtbevölkerung völlig isoliert, sie hatte keinerlei Schutz und Hilfe zu erwarten. Insofern verschleiern die Kollaborationsvorwürfe die Machtverhältnisse. Doron Rabinovici hat die Zwangslage der jüdischen Führung in seinem Buch „Instanzen der Ohnmacht“ präzise analysiert. Storfer hatte als Finanzexperte und Geschäftsmann schon 1938 verschiedenen NS-Stellen angeboten, die jüdische Auswanderung zu organisieren. Im August 1938 gründete Eichmann die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“. Als er bemerkte, dass die Zionisten ihre eigene Suppe kochen, beauftragte er Storfer, deren Transporte zu überwachen und eigene zu organisieren. Hinzu kam, dass die jüdische Gemeinde zwar in die Finanzierung der Transporte involviert war, es aber zu heikel für sie war, sich offiziell mit illegalen Transporten zu befassen.
Was bedeutete Illegalität in diesem Zusammenhang?
Die Ausreise aus dem Deutschen Reich war in dieser Phase legal, von den Nazis erzwungen und gewollt. Wenn die Menschen ihre „Steuerunbedenklichkeitserklärung“ hatten und ihr Vermögen zurückblieb, sollten sie verschwinden. Die Illegalität bezieht sich auf die Einreise in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Die Briten hatten 1917 in der Balfour-Erklärung versprochen, die Errichtung einer jüdischen Heimstätte zu fördern. Aber sie hatten geopolitische Interessen im Nahen Osten, die Ölfelder, den Suezkanal, und sie wollten, vor allem während des Krieges, keine Probleme mit dem arabischen Widerstand gegen die jüdische Einwanderung. Also wurde mit dem Weißbuch vom Mai 1939 die legale Einreise auf ein Minimum reduziert.
Hatten diese Ereignisse auch damit zu tun, das sonst niemand jüdische Flüchtlinge aufnahm oder war die zionistische Bewegung so stark?
Obwohl es in Deutschland und Österreich vor der NS-Zeit viele zionistische Organisationen gab, war die Bereitschaft, tatsächlich nach Palästina auszuwandern, gering. Nur einige verhältnismäßig kleine, radikale Jugendorganisationen setzten sich konsequent dafür ein. Der Großteil der Zionisten beschränkte sich vor 1938 darauf, das Aufbauwerk in Palästina ideell zu unterstützten, Geld zu spenden und vielleicht etwas Hebräisch zu lernen. Nach dem „Anschluss“ sah sich die jüdische Bevölkerung zur Flucht gezwungen, aber die meisten Länder machten ihre Grenzen dicht! Befragungen unter Israelis österreichischer und auch deutscher Herkunft haben gezeigt, dass die meisten erst durch den Nationalsozialismus zu
Zionisten geworden sind. Was das Verhalten der übrigen Welt betrifft: Es ist bis heute ein gewisses Tabu, darauf hinzuweisen, dass viel mehr Verfolgte hätten gerettet werden können, wenn sich die potentiellen Zufluchtsländer anders verhalten hätten. Und die Zahl der Überlebenden wäre ohne massive illegale Einwanderung wesentlich geringer gewesen – auch in die Schweiz, nach Belgien, Frankreich und andere Länder.
Die Konferenz von Evian stand gewissermaßen am Anfang der modernen Ausländergesetzgebung und dem Prinzip, dass man nur bestimmte Ausländer aufnehmen möchte.
In Evian haben die 32 teilnehmenden Länder unisono bekräftigt, dass sie zwar gerne jüdische Flüchtlinge aufnehmen würden, aber nicht können. Aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen oder weil sie, so sagten einige, mit den jüdischen Flüchtlingen nicht den Antisemitismus importieren wollten.
Wieso kassierte die „Donau Dampf Schiffsfahrt Gesellschaft“ im Zusammenhang mit den Flüchtlingstransporten so viel?
Die DDSG gehörte nach dem „Anschluss“ zu den Hermann-Göring-Werken und verschaffte sich ein Monopol über die Donauschifffahrt. Obwohl sie das aufgrund der Preisstoppverordnungen gar nicht durfte, verlangte sie für den Transport jüdischer Flüchtlinge zum Donaudelta horrende Preise. Die DDSG wurde vor einigen Jahren privatisiert und übergab den Rest ihrer Aktenbestände dem Österreichischen Staatsarchiv. Allerdings soll vorher ein Teil auf einem eigens veranstalteten Flohmarkt abverkauft worden sein! Was auch noch wichtig ist: Die Vertreibung der Juden wurde mit jüdischem Vermögen finanziert. Einerseits mit dem der Vertriebenen, zum anderen mussten ausländische jüdische Hilfsorganisationen wie der US-amerikanische „Joint“ enorme Summen zur Verfügung stellen. Die jüdische Auswanderung wurde im Herbst 1941 verboten, doch schon nach Kriegsbeginn 1939 war die Flucht immer schwieriger geworden, weil durch die Expansionspolitik des Deutschen Reiches immer mehr Transitwege abgeschnitten waren.
Storfer hat ja dann in Auschwitz noch mal mit Eichmann geredet. Wie war ihr Verhältnis?
Es gibt keine Zeugnisse mehr über Storfer im Archiv der Gedenkstätte in Auschwitz. Storfer wurde nicht in die Gaskammer geschickt, sondern einem Arbeitskommando zugeteilt. Eichmann berichtete während seines Prozesses in Jerusalem sehr zynisch, dass er Storfer auf dessen Wunsch in Auschwitz besucht habe. Storfer habe sich bei ihm beschwert, dass ihm die Arbeit so schwer falle, worauf er – Eichmann – gesagt habe: Arbeiten müsse Storfer nicht, denn der sei immer ganz ordentlich gewesen. Er fügte noch hinzu, dass Storfer nie Verrat am Judentum begangen habe. Wann genau Storfer in Auschwitz erschossen worden ist, wissen wir nicht.
Gabriele Anderl: 9096 Leben. Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer, mit einem Vorwort von Arno Lustiger, Rotbuch Verlag 2012
Erschienen im Augustin Nummer 326, 22.8. – 4.9. 2012