postheadericon „Die Pflicht der öffentlichen Gewalten“

Wiener Ringstraßen-Ausstellung zu Pracht und Elend: Für in Wien nicht heimatberechtigte Personen war im ausgehenden 19. Jahrhundert die öffentliche Armenfürsorge nicht zuständig. Das traf auf siebzig Prozent der über 70.000 in Wien lebenden Juden zu, die nach der Gewährung der Freizügigkeit im Jahre 1867 aus allen Teilen der Monarchie als Arbeitssuchende nach Wien gezogen waren. Die Wiener Bevölkerung hatte sich in einem halben Jahrhundert vervierfacht. Alle diese Menschen waren auf private Wohltätigkeit angewiesen, Bedürftigen sollten aber „die demütigenden Almosen“ erspart bleiben, „Hilfe zur Selbsthilfe“ war das Motto, ist in der Ausstellung „Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard“ im Wiener jüdischen Museum zu lesen.

Zahl- und variantenreich waren die Diskriminierungsformen für jüdische Menschen, ob arm oder reich. Auch schon lange vor dem Nationalsozialismus. So durften Juden erst durch die Revolution 1848 eigenen Grundbesitz erwerben und Kaiser Franz Joseph nutzte nach der Schleifung der Wiener Stadtmauern seine Kontakte zu jüdischen Bankiers und Unternehmern, die ihm Grundstücke abkauften und entlang der neu geschaffenen Ringstraße Paläste errichteten. Als Zeichen ihrer erfolgreichen Integration in die Gesellschaft, aber auch der Verehrung für den Kaiser. Auf der anderen Seite durften arme Juden eben keine staatlichen Zuwendungen erhalten und in der Ausstellung sind zahlreiche Bittbriefe zu sehen. Ebenfalls das „Hausirbuch“ (sic!) der Rosalie Reichmann aus 1882, die, bis sie 85 Jahre alt war, hausieren gehen musste. Wie sie mussten sich viele Jüd_innen den Lebensunterhalt durch Hausieren sichern. Die verschiedenen Diskriminierungen spiegelten sich dann im Antisemitismus wieder. Der Journalist Max Winter schrieb 1901 über das Wöchnerinnenheim des Vereins Lucina unter der Präsidentin Marie Auspitz: „Es ist nur ein bescheidener Anfang, wie es sein sollte, in einer Gesellschaft, in der die öffentlichen Gewalten es nicht der immer unzulänglichen Privatwohlthätigkeit überlassen, jene Wohlfahrtseinrichtungen zu schaffen, die zu errichten die Pflicht der öffentlichen Gewalten, insbesondere der Verwaltung der Millionenstadt wäre.“

http://www.jmw.at/de/exhibitions/ringstrasse-ein-juedischer-boulevard

Ersterscheinung im Augustin, 1.4. – 14.4. 2015

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