Der Überflieger
Von grandiosen Bruchlandungen und den mörderischen Handlungen des „falschen Selbst“ das „richtige“ zu retten. Ein Versuch, sich den Mord an 159 Menschen durch die Hypothesen der Psychoanalytikerin Alice Miller zu erklären.
Es gibt schon Möglichkeiten, extrem seltsames Verhalten zu beschreiben, ohne auf die klassischen psychiatrischen Diagnosen zurückzugreifen. Man kann es zumindest probieren, den Mord an 159 Menschen näher zu untersuchen. „Das sind abgespaltene Zustände der Seele“, sagte ein Psychiater im Fernsehen, denn anscheinend kam eine andere Persönlichkeit, eine neue Figur in dem Co-Piloten des Fluges 9525 German Wings zum Vorschein. Das „falsche Selbst“ vernichtet das „wahre Selbst“, wenn es keine Möglichkeit, keine Hoffnung mehr sieht, wie das „wahre Selbst“ leben könnte, ist die Theorie der Shoah-Überlebenden und Psychoanalytikerin Alice Miller. Das „falsche Selbst“ übernimmt die völlige Kontrolle. Miller argumentiert entlang den Modellen Grandiosität/Innere Leere und Depression, zwei Seiten einer Medaille. Ohne seinen Flugschein hätte es für Andreas L. keine Möglichkeit mehr gegeben, seine Grandiosität durch das Steuern riesiger Flugzeuge zu erleben. Ohne Freundin keine Möglichkeit mehr, Grandiosität zu demonstrieren, wie noch durch den Kauf von zwei Audis kurz vor der Trennung. Diese grandiosen Lösungen zur Abwehr von Depression und innerer Leere funktionierten nicht mehr. Die Grandiosität brach in sich zusammen. Es ist zu einfach zu sagen, man kann nicht alle schrecklichen Zustände der Seele des Menschen erklären, denn unsere Gesellschaft fördert das Grandiositäts-Modell, viele Menschen leben ihr „falsches Selbst“, übernehmen sich und wer am Grandiosiätsmodell scheitert, wird aussortiert. Es folgt zumeist eine Bruchlandung auf der Straße.
Ein Pilot, der weiterfliegt, weil er krankgeschrieben, seine Lizenz verloren hätte. Ein Junge, der bereits ab vierzehn Jahren flog, das Segelfliegen als sein Modell des Überfliegens anderer Menschen und der Verhältnisse auslebte. Sein Flugzeug. Sein „falsches Selbst“ im Flugzeug, wohl ein Davonfliegen statt eines Auslebens von Konflikten, einer Auseinandersetzung auf der Erde mit den realen Verhältnissen „par terre“.
Im Bauch des Flugzeugs
Alice Miller schrieb aus ihrer eigenen schrecklichen Erfahrung heraus. Sie musste alle ihre jüdischen Züge und Eigenheiten an sich töten, um drei Jahre erst im und dann in der Nähe des Warschauer Ghettos zu überleben, ein „falsches Selbst“ entwickeln, das sie aber auch nach dem Krieg nicht aufgab. Was dazu führte, dass sie sogar das Mitleid mit Kindern in sich dermaßen abspaltete, dass sie ihren eigenen Sohn weggab bzw. später seiner Mißhandlung durch seinen Vater zuschaute. Als weltberühmte Kindertherapeutin! Sie zahlte einen hohen Preis für ihr Überleben und die Rettung ihrer Schwester und Mutter, die sie gar nicht leiden konnte.
Acht Minuten Sinkflug. Kinder an Bord. Insofern interpretiere ich den Mord an den Passagieren nicht als Rache, wie es eine Psychiaterin im Fernsehen tat („Ihr konntet mir nicht helfen!“), sondern denke, dass das „falsche Selbst“ des Andreas L. die Menschen im Bauch seines Flugzeuges als Teil von sich selbst begriff, weil er nicht unterscheiden konnte zwischen sich und anderen – andere Menschen nicht als eigenständige Wesen getrennt von sich selbst leben lassen konnte. Wie das arme, kümmerliche Selbst einer Mutter, die ihre Kinder tötet, die sie als Teil von sich begreift. Ein Pilot seine Passagiere. So schrecklich das ist: „Ich habe euch jahrelang sicher geflogen, tugendhaft und brav, jetzt vernichte ich euch, symbolisch für den Teil meines wahren Selbst, der durch das Fliegen und die Verantwortung getötet wurde“, könnte ein innerer Monolog gelautet haben. Was war sein Auslöser für den Wunsch zu fliegen? Zu entkommen? Warum funktionierte es nicht auf Dauer? Wie sah der frühere Selbstmord-Wunsch aus, wie wurde der gestoppt? Durch das Fliegen größerer Maschinen? Eine Sackgasse! Der Überflieger – das bedeutet eine Art der Grandiosität, des Schwebezustandes über den Menschen, das Leben von anderen in der Hand halten, an die man sich gewöhnen kann. Aber irgendwann hat es nicht mehr funktioniert, das Davonfliegen.
„Der Zusammenbruch des Selbstwertgefühls beim ‚grandiosen’ Menschen zeigt mit aller Schärfe, wie es eigentlich in der Luft ‚an einem Luftballon’ (Traum einer Patientin) gehangen hatte, bei gutem Wind zwar hoch hinaufflog, aber plötzlich ein Loch bekam und nun wie ein kleines Fetzchen am Boden liegt“, schreibt Miller in „Das Drama des begabten Kindes. Und die Suche nach dem wahren Selbst“.