Artikel-Schlagworte: „Trauma“
Der Überflieger
Von grandiosen Bruchlandungen und den mörderischen Handlungen des „falschen Selbst“ das „richtige“ zu retten. Ein Versuch, sich den Mord an 159 Menschen durch die Hypothesen der Psychoanalytikerin Alice Miller zu erklären.
Es gibt schon Möglichkeiten, extrem seltsames Verhalten zu beschreiben, ohne auf die klassischen psychiatrischen Diagnosen zurückzugreifen. Man kann es zumindest probieren, den Mord an 159 Menschen näher zu untersuchen. „Das sind abgespaltene Zustände der Seele“, sagte ein Psychiater im Fernsehen, denn anscheinend kam eine andere Persönlichkeit, eine neue Figur in dem Co-Piloten des Fluges 9525 German Wings zum Vorschein. Das „falsche Selbst“ vernichtet das „wahre Selbst“, wenn es keine Möglichkeit, keine Hoffnung mehr sieht, wie das „wahre Selbst“ leben könnte, ist die Theorie der Shoah-Überlebenden und Psychoanalytikerin Alice Miller. Das „falsche Selbst“ übernimmt die völlige Kontrolle. Miller argumentiert entlang den Modellen Grandiosität/Innere Leere und Depression, zwei Seiten einer Medaille. Ohne seinen Flugschein hätte es für Andreas L. keine Möglichkeit mehr gegeben, seine Grandiosität durch das Steuern riesiger Flugzeuge zu erleben. Ohne Freundin keine Möglichkeit mehr, Grandiosität zu demonstrieren, wie noch durch den Kauf von zwei Audis kurz vor der Trennung. Diese grandiosen Lösungen zur Abwehr von Depression und innerer Leere funktionierten nicht mehr. Die Grandiosität brach in sich zusammen. Es ist zu einfach zu sagen, man kann nicht alle schrecklichen Zustände der Seele des Menschen erklären, denn unsere Gesellschaft fördert das Grandiositäts-Modell, viele Menschen leben ihr „falsches Selbst“, übernehmen sich und wer am Grandiosiätsmodell scheitert, wird aussortiert. Es folgt zumeist eine Bruchlandung auf der Straße.
Dabernig: Die Leere rocken
Der Bildhauer, Filmemacher und multimediale Künstler Josef Dabernig im mumok: Nach Jahrzehnten voll komplizierter Zahlenkunst drehte Josef Dabernig Filme mit sehr persönlichem Zugang. Humor, sagt er, sei ein „Selbstbehauptungs-Vehikel“ in disziplinierenden Strukturen.
„Wir Hacklerkinder wurden im Stich gelassen!“
Erwachsene „Heimkinder melden sich zu Wort“. Eine ganz eigene Form österreichischer Bevölkerungspolitik: Gastarbeiter_innen Babys wegnehmen, nicht verheirateten Müttern ihre Kinder entziehen und gewalttätige Übergriffe gegen Heimkinder vertuschen. Personell und ideologisch zeigen sich in der Heimkinder-Debatte Kontinuitäten aus Nationalsozialismus und Austrofaschismus.
„Wir sind Heimkinder, an uns ist ein Verbrechen begangen worden“, sagt der große Mann mit dem karierten Holzfällerhemd. „Man muss auch auf die Opfer hören. Wir haben selbst die Akten zu Wimmersdorf ausgehoben. Ich möchte mich entschuldigen, dass es eine heftigere Diskussion ist, denn es sind unsere Emotionen drin, das ist uns passiert.“ Es ist so erstaunlich, wenn man einen kräftigen, riesigen Mann Mitte vierzig, als Betroffenen über Missbrauch und Gewalt gegen Heimkinder der 1970er und 80er Jahre reden hört. Ganz lieb, ganz vorsichtig, ganz nachdenklich.
Der Purpurblaurabe und die „Realität zweiten Grades“
Tatiana Lecomte im Museum am Judenplatz.
Wie läßt sich eine traumatische Geschichte in Bildern verarbeiten? Wenn jemand etwas sehr Schlimmes erlebt hat, passen für sie oder ihn die Bilder im Kopf nicht immer mit der Realität zusammen. Man kann die Wirklichkeit manchmal nicht einordnen. Standbilder, Flashbacks oder Farbausfälle kennzeichnen ein Trauma – eine Fragmentierung der Wirklichkeit passiert, nur Teile des Geschehens werden noch wahrgenommen. Inkablaurabe oder Rostbauch-Fruchttaube, Bunttukan oder Purpurblaurabe heißen die Vögel, die die Künstlerin Tatiana Lecomte im Wiener Jüdischen Museum am Judenplatz ausstellt. Und damit die erste zeitgenössische Kunst Ausstellung in der kleinen Schwester des großen Jüdischen Museums ausrichtet. Große Schwarzweißfotos von ausgestopften Vögeln aus dem Naturhistorischen Museum stehen auf dem Boden und zeigen einen erstarrten Tod mit einem Rest von Lebendigkeit in den künstlichen Augen.
Flüchtlinge in der Votivkirche: „Das ist wie ein Krebs, man wird tot innen“
Auf Menschen mit Todes-Erfahrungen muss man aufpassen…: Weil Shajahan weiß, wo sich ein Ausbildungs-Zentrum der Taliban befindet, würde er in Pakistan ermordet werden. Doch Österreich ist nicht bereit, ihm Asyl zu gewähren. Nun hungert Shani sich die bei den Taliban durch Steroide zugenommenen Kilos in Österreich im Hungerstreik wieder herunter.
„Wir wollen den normalen Menschen in Österreich erklären, wie die Situation in unseren Heimatländern ist“, sagt der hagere Mann, der mit einem Schlafsack umhüllt auf einer Matraze mitten in der Wiener Votivkirche sitzt. „Es gibt keinen einzigen Flüchtling hier, der nicht jemand aus seiner Familie verloren hat. Durch den Hungerstreik sind wir alle schon etwas geistig beeinträchtigt („mentally disturbed“).“ Mit seinem Bart, der Mütze und der Kapuze darüber und dem durchdringenden Blick, schaut dieser Flüchtling wie ein Revoluzzer aus. Ein Film- und Fernsehjournalist befragt ihn gerade. „Unsere Forderungen sind keine einfachen“, sagt der Flüchtling. „Wir wollen einen legalen Status und Reisedokumente. Die Mentalität in Österreich macht den Flüchtlingen nur Vorwürfe.“ „Was muss passieren, damit ihr den Hungerstreik beendet?“, fragt der Fernsehjournalist hartnäckig bereits zum zweiten Male, seine Stimme wird lauter. „Wenn wir unsere Rechte erhalten. Wir sind schwach, wir tragen eine Menge Probleme im Herzen und wir kämpfen gegen das System und die Welt“, ist die Antwort. „Wir wollen keine warmen Plätze oder Erleichterungen haben.“